Aufbrechen auf den Ruf Jesu hin (Mt 4,18-22) – Fest des hl. Andreas

„Kommt her, mir nach!“

So ruft es Jesus am See von Galiläa Simon Petrus und Andreas zu. Sofort lassen die beiden die Netze liegen und folgen Jesus. Aus den Fischern werden Menschenfischer.

Wir sind in der ersten Woche des Advents, und auch uns allen gilt in diesem Advent 2022 der Ruf Jesu: „Mir nach!“  Adventlich bedenken wir, dass Gottes grenzenlose Liebe uns entgegenkommt. Diese Liebe will im Menschensohn Jesus Christus konkret werden. Auch wir sind eingeladen, den Ruf Gottes neu zu hören: „Du, Menschenkind, folge mir nach“. Gott ruft Menschen in seine Gefolgschaft.  Am Beispiel Jesu lernen die Jünger, was es existentiell bedeutet, diese Liebe zu leben und sie den Menschen erfahrbar zu machen. Die große adventliche Verheißung  zu leben, hieße dann:

Ich höre den Ruf Gottes neu; Gott braucht mich.

Gottes Liebe gilt mir, indem Gott mir nahe kommt, da er selbst Mensch wird.

Ich verleihe meinem Leben eine tiefe Sinnperspektive, wenn ich diese Liebe bezeuge in all meinem Sein  – hörend, glaubend und ablesbar in meinem Handeln.

Br. Emmanuel Panchyrz OSB

Aufbrechen zur neuen Schöpfung (Jes 11,1-10)

Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. (Jes 11,6-8)

Die Schöpfung ist bedroht. So kann es nicht weitergehen, wie es lange weitergegangen ist. Das werden wohl nur die uneinsichtigsten Leugner:innen des Klimawandels bestreiten. Wie drängend die Situation ist, das zeigen uns die spektakulären Aktionen der Klimaaktivist:innen der „Letzten Generation“. Auch wenn man über den Sinn so mancher Aktion sicherlich diskutieren mag, wird für mich hier ein Aufschrei der jungen Generation deutlich, die ja unmittelbar von den Folgen unseres Lebensstils betroffen ist. Es ist drängend. Es muss etwas getan werden, wenn es auch in dreißig Jahren noch weitergehen soll. Mir scheint, dass der Ruf nach drastischen Strafen und Präventivhaft, der aus einigen Ecken lautstark erschallt, oft nur ablenken soll vom eigenen Versagen.

Mitten hinein in diese so bedrängende Situation wird uns heute die Vision einer neuen Schöpfung vor Augen gestellt, in der ein wahrhaft paradiesischer, Mensch und Tier umfassender Friede (Shalom) verheißen wird. Ist das nur eine billige Vertröstung für spätere Zeiten? Aber wie kann es diese späteren Zeiten geben, wenn wir alles dafür tun, diese Zeit und Welt hier und heute auszulöschen?

„Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem heiligen Berg“ (Jes 11,9), so heißt es weiter. Es liegt an uns, an jedem einzelnen, mit der Vision einer neuen Schöpfung anzufangen. Es liegt an uns, auf den so drängenden Protestruf der „Letzten Generation“ nicht mit Strafen zu reagieren, sondern mit dem Überdenken – und vielleicht Ändern – des eigenen Lebensstils. Shalom ist eine Aufgabe, die uns alle angeht. Keiner kann sich dieser Aufgabe entziehen. So kann uns die adventliche Vision des Propheten zur Herausforderung werden, zu dieser neuen Schöpfung aufzubrechen.

P. Maurus Runge OSB

Aufbrechen zum Gericht

An jenem Tag wird der Spross des HERRN zur Zierde und zur Herrlichkeit sein und die Frucht des Landes zum Stolz und zum Schmuck für die Entronnenen Israels.
Dann wird der Rest in Zion, und wer in Jerusalem noch übrig ist, heilig genannt werden, jeder, der zum Leben eingeschrieben ist in Jerusalem.
Wenn der Herr den Kot der Töchter Zions abgewaschen und die Bluttaten Jerusalems aus ihrer Mitte durch den Sturm des Gerichts und den Sturm der Verwüstung weggespült hat,
dann erschafft der HERR über der ganzen Stätte des Berges Zion und über ihren Versammlungen eine Wolke bei Tag und Rauch und eine strahlende Feuerflamme bei Nacht. Denn über der ganzen Herrlichkeit ist eine Decke.
Und eine Hütte wird bei Tag Schatten spenden vor der Hitze und sie dient als Zuflucht und Versteck vor Unwetter und Regen. (Jes 4,2-6)

Beim Lesen dieser Verse aus dem Buch Jesaja habe ich in diesem Advent direkt konkrete Bilder aus den Nachrichten im Kopf, wenn ich die Worte „Bluttaten“ und „Verwüstung“ höre: Bilder des Krieges in der Ukraine, die uns seit März begleiten und die uns täglich bewusst machen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir in einem sicheren Land in Frieden leben können. Es ist eigenartig: prophetische Worte gerichtet an das Volk Israel, das über Jahrhunderte hinweg von den Assyrern und Babyloniern drangsaliert, bedroht und sogar ins Exil verschleppt wurde, kommen uns in diesem Advent ganz nahe und sind auf traurige Weise aktuell. Nahe kommt uns in diesen Worten aber auch die tiefe Sehnsucht und die Hoffnung auf Frieden, die sich mit der erwarteten Geburt des Messias verbindet: Israel setzt seine Hoffnung auf den Spross des Herrn, den Jesaja „Fürst des Friedens“ nennt (Jes 9,5). Der Advent in diesem Jahr ist anders…stiller, nachdenklicher und die Ängste und Sorgen über die Zukunft lassen sich nicht so leicht durch vorweihnachtlichen Konsum- und Lichterglanz ausblenden und überstrahlen. Mitten in diese leicht eingetrübte und gedämpfte Stimmung hinein leuchtet aber auch in diesem Jahr die kleine Kerzenflamme der ersten Adventskerze. Sie leuchtet gerade in diesem Advent als Zeichen unserer Hoffnung, dass Friede werden möge…

P. Vincent Grunwald OSB

Bereit sein zum Aufbruch (Mt 24,29-44)

Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. (Mt 24,44)

Das lange Evangelium an diesem ersten Adventssonntag spricht von einer Ankunft und von den Dingen, die unmittelbar vor dieser Ankunft geschehen. Es klingt in vielem düster, dunkel, apokalyptisch. Es richtet den Blick auf das Ende, auf den Zeitpunkt, „an dem der Menschensohn kommt“. Es wird eine Stunde sein, „in der ihr es nicht erwartet“. Da ist wenig von adventlicher Idylle zu spüren, von Glühweinduft und Zimtsternen.
Diese Ankunft, auf die wir uns in diesen adventlichen Tagen vorbereiten, hat mit einem Aufbruch unsererseits zu tun. Warten bedeutet nicht, die Hände in den Schoß zu legen und die Dinge einfach geschehen zu lassen – nach dem Motto „Wir können ja eh nichts ändern“.
Wir müssen bereit sein, bereit sein zum Aufbruch, bereit sein, alte, gewohnte Wege zu verlassen, uns auf-brechen zu lassen für Neues, manches Mal auch Überraschendes, „denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet“.
So verstanden, kann der Advent zu einer Zeit der Überraschungen werden, zu einer Zeit, in der ich mich neu überraschen lasse von dem, was Gott mit mir vorhat.
Lassen wir uns in dieser Zeit neu von Gott überraschen!

P. Maurus Runge OSB

Die diesjährigen Fasten.Impulse finden Sie auf unserer Jugendhomepage.

 

Singt dem HERRN ein neues Lied!
Singt dem HERRN, alle Länder der Erde!
Singt dem HERRN, preist seinen Namen!
(Ps 96,1)

Es ist ein einziger Lobgesang auf Gott, der Psalm 96. „Ein neues Lied für den König der Welt“ ist sein Titel nach der BasisBibel. Gott gebührt alle Herrlichkeit und Ehre, alles Lob und alle Anbetung. Denn durch ihn ist die Erde fest gegründet, er richtet nach Recht und Gerechtigkeit, alle sollen sich freuen über ihn.

Ist es nicht das, wonach wir uns gerade im Moment alle sehnen?
Endlich wieder Freude und Lobgesang,
endlich wieder ein gerechtes Zusammensein,
endlich wieder Verlässlichkeit und Freiheit. Liebe.

Ich bleibe an einem Halbvers hängen:
„Verkündet seine Hilfe von Tag zu Tag!“ (96,2 BasisBibel)

Seine Hilfe?
Spüre ich sie denn – geschweige denn Tag für Tag?
„Verkündet sein Heil von Tag zu Tag!“ heißt es in der Einheitsübersetzung.

Die „Volxbibel“ wird direkter:
„Jeder soll es checken, jeder soll singen,
überall sollen Lieder für Gott erklingen.
Erzählt den Leuten dass er liebt und nicht disst,
lasst die Story raus, wie krass unser Gott denn überhaupt ist!
Erzählt die Wunder, die nur jemand bringen kann wie er,
weil die, die ihn nicht kennen, brauchen ihn schwer!“

Wo erlebe ich die Hilfe, die Gott ist,
wo erlebe ich die kleinen Wunder in meinem Alltag,
wo erlebe ich, dass etwas gut – heil – wird?!

„Du bist mein geliebter Sohn!“
– die Zusage an Jesus im Evangelium des heutigen Sonntags ist uns allen in der Taufe gegeben: „Du, meine geliebte Tochter, du, mein geliebter Sohn!“

Wenn ich das in meinem Leben spüre:
sage ich es weiter?!

P. Guido Hügen OSB

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. (Joh 3,16 – ganzer Text: Joh 3,1-21)

Besonders in den alten und klassischen Kirchenliedern zur Passionszeit begegnet sie uns: die Vorstellung, dass Jesus am Kreuz sterben musste, um unsere Schuld wieder gut zu machen. „Ich, ich hab es verschuldet, was du getragen hast“ heißt es da beispielsweise in dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ und manche haben solche Passagen derart verinnerlicht, dass sie mit einem schweren Rucksack von religiös begründeten und häufig irrationalen Schuldgefühlen durch das Leben gehen. Damit soll an dieser Stelle nicht gesagt sein, dass Menschen nicht immer wieder Schuld auf sich laden und diese der Vergebung und Versöhnung untereinander bedarf. Aber musste Jesus sterben, um Gott mit seinem Tod eine angemessene Sühneleistung für die Sünde der verderbten Menschheit darzubringen?

Zumindest mit dem Johannesevangelium lässt sich dieses alte Deutungsmuster nicht aufrechterhalten. Der Tod Jesu am Kreuz ist die Konsequenz daraus, dass Jesus seine Botschaft bis zum Äußersten selbst lebt. So sehr liebt Gott diese Welt, dass er seinen Sohn in diese Welt sendet und diese Liebe wird im Sterben vollendet, weil die Botschaft der Gewaltlosigkeit und der unbedingten Liebe hier bis ins Letzte hinein gelebt wird. Es geht bei diesem Sterben am Kreuz dann eben nicht darum, eine beleidigte Gottheit mit einer entsprechenden Sühneleistung zu versöhnen. Und die Rechtfertigung des sündigen Menschen und seine Erlösung geschehen durch seinen Glauben daran: Der Glaube ist das „Von-oben-Geboren-werden“, von dem Jesus in seinem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus spricht.

P. Vincent Grunwald OSB

Und das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Und er fand im Tempel die Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die da saßen. Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um und sprach zu denen, die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus! Seine Jünger aber dachten daran, dass geschrieben steht: »Der Eifer um dein Haus wird mich fressen.« Da antworteten nun die Juden und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten. Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? Er aber redete von dem Tempel seines Leibes. Als er nun auferstanden war von den Toten, dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte. Als er aber in Jerusalem war beim Passafest, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an; denn er kannte sie alle und bedurfte nicht, dass jemand Zeugnis gäbe vom Menschen; denn er wusste, was im Menschen war. (Joh 2,13-25)

„Macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus!“
So übersetzt Martin Luther diesen Satz aus der Perikope der Tempelreinigung.
Nicht alles in dieser Welt lässt sich mit der Logik des Kaufens und Verkaufens verstehen.
Es gibt Bereiche, die entziehen sich der Logik des Marktes.
Der Markt regelt eben nicht alles.

Der Tempel ist Haus Gottes, kein Kaufhaus.
Gott lässt sich nicht kaufen wie eine beliebige Ware.
Um die Gnade Gottes kann ich nicht feilschen.
Die Liebe Gottes ist umsonst.

Gott schenkt mir seine Liebe – umsonst.
Er wird für mich Mensch – gratis.
Ich muss mir zum Glück nicht alles selbst verdienen.
Ich darf mir seine Liebe schenken lassen.

Die Tempelreinigung steht ganz am Anfang des Weges Jesu im Johannesevangelium.
Gleich zu Beginn setzt Jesus einen Kontrapunkt zur gängigen Kaufhausmentalität.
Was für ein Frei-Raum, der uns da geschenkt wird!

P. Maurus Runge OSB

Die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-12)

Jesu öffentliches Auftreten beginnt mit einem ersten Zeichen, indem er auf einer Hochzeit Wasser in Wein verwandelt.

In der Bildsprache der heiligen Schrift steht das Bild einer Hochzeit für die „Vermählung“ Gottes mit jedem Menschen. So heißt es schon beim Propheten Jesaja: „Ja, wie der Jüngling sich vermählt mit der Jungfrau, so vermählt sich mit dir dein Erbauer; wie der Bräutigam sich freut an der Braut, so freut sich an dir dein Gott“ (Jes 62,5). In der Menschwerdung Gottes bildet Gott eine unzerstörbare Verbindung, ja eine Beziehungsqualität zwischen sich und dem Menschen. Wir Menschen sind mit Gott bis in Ewigkeit hin mit IHM Verbundene.

Der Wein steht als Bildwort für die grenzenlose Fülle, die Gott schenkt. In der Geburt des Jesuskindes macht sich Gott uns zum Geschenk. Seit der Geburt dieses göttlichen Kindes bricht eine neue Zeit der „Fülle“ an. Nun leben wir als mit Gott Vermählte und als Beschenkte, wobei uns Gott mit seiner Fülle der Liebe und Zärtlichkeit überschüttet.

Heute feiern wir das Fest der Epiphanie. Die drei Magier, die dem Stern folgten, knien vor dem göttlichen Kind nieder und beschenken es;  sie beten es an.

Die drei Magier dürfen uns besonders heute Vorbilder sein, unserer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, dass wir mit Gott  in einer  ewigen Beziehung stehen. Gott erscheint, und eine neue Zeit des Heils bricht an. Unsere Antwort darauf: Beten wir das göttliche Kind an.

Br. Emmanuel Panchyrz OSB

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wirst du bleiben?  Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.  Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!  Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. (Joh 1,35-51)

Vor kurzem zeigte der Sender Arte den Dreiteiler „Das Seil“.
In der Serie geht es um ein Team von Wissenschaftlern in einer astronomischen Forschungsstation mitten im norwegischen Nirgendwo. Eines Tages entdeckt einer der Wissenschaftler im tiefen Wald ein Seil, das scheinbar kein Ende hat. Einige Forscher tun sich zusammen, und folgen dem Seil, um herauszufinden, was es damit auf sich hat. Und es beginnt für sie eine abenteuerliche Reise. Dem Zuschauer wird bei dieser Geschichte schnell klar, dass es sich bei dem Seil um eine Metapher handelt, eine pessimistische Metapher für die Weltreligionen. Je länger die Forscher dem Seil folgen, desto mehr wollen sie zu seinem Ende kommen, und wissen, was dort auf sie wartet, sie werden davon immer mehr besessen. Das Seil wird zur Obsession, die alles bestimmt und verteidigt werden muss, und es folgen daraus Gewalt, Misstrauen und Tod. Der scheinbare Halt führt zur Haltlosigkeit.
Tatsächlich habe ich mich nach dem Sehen der Serie ein wenig gefragt, ob meine Momente der Berufung nicht auch eigentlich nur ein Seil waren, welches ich auf einmal im Wald gefunden habe. Eine Illusion in einer haltlosen Zeit. Wir alle haben Momente der Berufung erfahren, und erfahren sie immer wieder. Doch ist dieser Ruf nur eine Illusion, die uns scheinbar Halt in der Wahrheit verspricht? Ganz klar kann man das sicher nicht mit Ja oder Nein beantworten. Doch klar ist, dass der Ruf in uns etwas bewegt hat und wir uns auf den Weg gemacht haben. Und wenn ich die heutige Berufungsgeschichte lese, dann bewegt sie mich immer wieder auf neue.
Können Sie sich an einen der Momente ihrer Berufung erinnern?
Ich erinnere mich, dass mich eines Tages plötzlich die Stille gerufen hat. Ganz langsam ist sie in mein Leben getreten. Das war außergewöhnlich, denn als Kind hatte ich vor der Stille Angst, und als junger Mensch sucht man Trubel und Spaß.
Einmal hatte ich ein besonderes Erlebnis mit Stille.
Nach dem Tod meines Vaters bin ich viel gewandert. Mich hatte es getröstet, einfach zu laufen und die Natur zu erleben. Bei einer dieser Wanderungen an einem warmen Märztag ging ich einen Weg entlang und von einem Schritt auf den anderen war alles auf einmal vollkommen still. Es war, wie wenn ich in eine Blase aus Stille getreten wäre. Kein Vogelgesang, kein anderes Geräusch, nur mein Herzschlag war zu hören.
So plötzlich wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder vorbei. Wie ein scheues Tier.
Dieser Moment war für mich kein gefundenes Seil, da war kein Halt, keine Erklärung der Welt, keine Angst, da war nur Weite und Freiheit.

Br. Balthasar Hartmann OSB