Predigt am 3. Fastensonntag (20.03.2022)
von Br. Robert Sandrock OSB
Liebe Schwestern und Brüder,
vor vielen Jahren, als man noch ohne Maske dicht an dicht im Zug saß, sprach mich meine Sitznachbarin, eine ältere Dame, an. Wir kamen in ein längeres Gespräch, und nach einiger Zeit zeigte sie mir, dass sie gerade ein Buch über Brustkrebs las. Natürlich wollte ich nicht indiskret sein, und gleich zu Beginn nach ihren Krankheiten fragen. Deshalb fragte ich: „Sind Sie Ärztin oder Krankenschwester?“ Ihre Antwort war direkt: „Nein, ich bin selbst an Brustkrebs erkrankt, und ich bin froh darüber.“ Sie teilte mir mit, dass sie erfolgreich operiert worden war, aber natürlich könne sie nicht sicher sein, dass der Krebs nicht doch irgendwann zurückkehre. Dadurch habe sie gelernt, das Leben mehr zu schätzen und jeden Tag bewusster zu genießen. Wir tauschten unsere Adressen aus und blieben viele Jahre in Kontakt. Sie hatte als Krankenschwester und Reiseleiterin gearbeitet, ihr Mann war aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurückgekommen und die einzige Tochter hatte den Kontakt mit ihr abgebrochen. Neben einem – nicht aufdringlichen – Glauben an Gott wurde sie von ihrem Sinn für Kunst durch das Leben getragen. „Ich habe so viel Schönes sehen dürfen“, schrieb sie mir einmal.
Wo finden wir Orientierung angesichts der vielen Katastrophennachrichten? Auf den Gedanken, bei den Bischöfen oder im Hirtenbrief nach Orientierung zu suchen, wird in diesen Tagen wohl niemand kommen. Aber die Leseordnung der Kirche bietet uns heute einen der schönsten und wichtigsten Texte der Bibel. Mose, ein Flüchtling aus Ägypten, hat beim Hirtenvolk der Midianiter Obdach gefunden und ist jetzt der arme Schwiegersohn eines Priesters und Herdenbesitzers. Mitten in seinem banalen, langweiligen Alltag macht er eine Gotteserfahrung und bekommt einen Auftrag, der seine Langeweile vertreibt, aber auch seine Sicherheit für immer beendet: „Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus.“ Es ist der Auftrag, das unterdrückte Volk zu befreien. Der Auszug aus Ägypten, die Befreiung aus dem Sklavenhaus, wird das Urerlebnis des Volkes Israel werden, und auch wir werden in vier Wochen, in jener wunderbaren Osternacht, wieder die Lesung vom Durchzug durch das Rote Meer in die Freiheit hören. Gott sagt, „Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie zu befreien.“ Gott kennt das Leid der Männer, Frauen und Kinder, die zu Opfern von brutalen Diktatoren geworden sind, er kennt das Leid der Flüchtlinge, der Kranken und Einsamen, er kennt das Leid der Schöpfung, und er kennt auch unser Leid. Wir dürfen bei der Aussage, „Ich bin herabgestiegen“, durchaus daran denken, dass Gott Mensch geworden ist, dass er am Kreuz gestorben ist. Nicht umsonst empfinden so viele Menschen das Bild von Jesus am Kreuz oder das Bild von Maria mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß als so tröstlich.
Aber das ist immer noch nicht der Höhepunkt der heutigen Lesung: Gott hat einen Namen, einen unaussprechlichen, einen geheimnisvollen Namen. Für die Juden wurde der Name so heilig, dass nur noch der Hohepriester ihn aussprechen durfte, wenn er einmal im Jahr am höchsten Festtag das Allerheiligste des Tempels betrat. Seit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. weiß niemand mehr mit Sicherheit, wie der Name Gottes auszusprechen ist, zumal im hebräischen Urtext der Bibel nur die Konsonanten J – H – W – H überliefert sind. Nach alter Tradition steht an den fast 7000 Stellen, wo der Gottesname im Alten Testament vorkommt, die Übersetzung „der Herr“.
Die Deutung, die unser Text uns gibt, ist eher ein Rätsel als eine Erklärung: „Ich bin der ich bin“. Die ältere Einheitsübersetzung hat an die Erfahrung gedacht, dass Gott uns immer begleitet, auch im Leid, und deshalb übersetzt: „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘.“
„So viel Schönes“ hat meine alte Freundin in ihrem Leben erfahren dürfen. Auch wir machen in diesen Tagen viele schöne, tröstliche Erfahrungen: All die vielen Menschen, die sich jetzt in ihrem Alltag, in ihrer Langeweile und in ihrer Sicherheit stören lassen, die Platz für Flüchtlinge bereit stellen, die Spenden geben, die sich auf Schulhöfen in Blau und Gelb gekleidet aufstellen, um die ukrainische Fahne nachzubilden, all die vielen kleinen und großen Zeichen der Solidarität. Unserer Abtei sind in der vergangenen Woche fast die Kerzen ausgegangen, weil so unerwartet viele Menschen eine Kerze in der Marienkapelle angezündet haben. Viele von uns sind in den vergangenen Wochen und Monaten an Corona erkrankt – und genesen. Wir können froh und dankbar sein, dass es eine Impfung gibt und gute – leider schlecht bezahlte – Krankenpfleger, gute Forscherinnen und Ärzte in unserem Land. Sogar – das ist leider etwas untergegangen angesichts der vielen schlechten Nachrichten – in unserer Kirche scheint sich durch das unaufhörliche Engagement von Christen und besonders Christinnen etwas zu bewegen. Zumindest stimmen die Beschlüsse des Synodalen Weges von Anfang Februar hoffnungsvoll.
Auch wenn wir nicht wie Mose ein ganzes Volk befreien können – und das auch nicht müssen –, so können wir doch unseren kleinen Beitrag leisten. Es ist schön, dass Energiesparen jetzt gegen den Klimawandel und auch gegen Diktatoren hilft. Gott sagt uns zu, dass er uns in unserem Leben begleitet: „Ich bin da, ich kenne euer Leid, ich bin herabgestiegen, um euch zu befreien.“