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von P. Matthias Skeb OSB

Liebe Schwestern und Brüder!

Als ich ein Student im ersten Semester war, erhielten wir einmal als Hausaufgabe den Auftrag, einen Aufsatz eines berühmten deutschen Philosophen zu lesen, der um 1800 in Berlin lebte: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der Titel des Aufsatzes lautete: „Wer denkt abstrakt?“. Wer denkt wohl schon abstrakt? Besonders die Philosophen selbst, Mathematiker, Physiker, Astronomen, Informatiker. Das dachte ich mir. Falsch gedacht! Hegel dachte an geistig ziemlich schlicht gestrickte Leute im Kleinbürgertum Berlins zu seiner Zeit, also an Leute, denen man spontan eine Abstraktionsleistung eigentlich nicht zutrauen würde. Wie das? Was er als Abstraktion bezeichnet, meint „übertriebene Vereinfachung“, Denken in Schablonen und Klischees, Absehen von der Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit. Komplexe Wirklichkeit, handlich abgefüllt auf kleine Flaschen. Sprachlich drücke sich das aus in Formulierungen wie: „Das ist doch nichts anderes als…“ Einmal ehrlich: Wie häufig kommt uns das oder Ähnliches über die Lippen oder mindestens in den Sinn? Die Sichtweisen, das Verhalten eines anderen Menschen sind doch nichts anderes als dumm, gefährlich, hinterweltlerisch usw. Ähnlich schablonenhaft sagen wir: die Lehrer, die da oben auf dem Klosterberg, die Kirche, die Priester, die Wissenschaftler, die Politiker, das fehlerhafte Gesamtsystem „Katholische Kirche“, wie sich kürzlich ein typischer „Systemvertreter“ weit aus dem Fenster lehnte. Wenn wir heute häufig von angeblich „alternativlosen“ Entscheidungen, „alternativlosen“ Standpunkten, Forderungen oder Konsequenzen hören, die wir akzeptieren sollen, ist das eine moderne Version der gleichen geistigen Schlichtheit, die da sagt: „Das ist doch nichts anderes als…“ Je schlichter gedacht, desto lauter geäußert. Für das Osterevangelium gibt es diese billige Eindeutigkeit nicht, als ob es nur eine alternativlose Schlussfolgerung gäbe: Jesus ist nichts anderes als auferstanden, beziehungsweise: Jesus ist nichts anderes als tot.

Aber schauen wir genauer hin. Die Frauen also gehen nach dem Tod Jesu zur Beerdigungsroutine über und wollen den Leichnam salben, wie es üblich war. Da passiert etwas, was die Routine durchbricht. Das Grab ist offen, der Leichnam verschwunden; sie sind ratlos. Der Leichnam ist nicht mehr da, und von einem Auferstandenen ist weit und breit nichts zu sehen. Da zeigen sich unbekannte Männer in leuchtenden Gewändern und deuten die Abwesenheit Jesu als Zeichen: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Der Menschensohn ist auferstanden wie er selbst gesagt hat“; und wer ihn jetzt noch im Grab sucht, sucht das Leben am  falschen Ort. Dass diese Frauen mit einem Schlag zum Osterglauben gekommen wären, davon lesen wir nichts.  Ein erster Hinweis: Ostern feiern, heißt: Nicht zu vorschnellen Urteilen kommen, Deutungen offenlassen, die Ambivalenz der Situation und die Ratlosigkeit aushalten, und einen Rat annehmen: Suchen wir den Lebenden und das Leben nicht bei den Toten!
Was die Frauen berichten, nehmen die Apostel nicht ernst: Das kann doch gar nicht sein! Das hat es ja noch nie gegeben! Was die wohl gesehen haben? Besser sich nicht bewegen und erst einmal weitermachen wie immer. Wir kennen diese Form vom Behäbigkeit und Bräsigkeit, die sich nicht in Bewegung setzen will, auch wenn klar ist, dass man gescheitert ist: vor die Wand gelaufen, mit seinem Latein am Ende, abgewirtschaftet und ohne Zukunft. Den Lebenden bei den Toten suchen? Nur Petrus will das nicht, ausgerechnet Petrus. Er steht auf, geht zum Grab, sieht die Leinenbinden da liegen, nicht aber den Leichnam und geht erstaunt nach Hause. – Und immer noch keine Eindeutigkeit, noch immer kein Osteralleluja. Das ist der zweite Hinweis: Ostern feiern heißt: aufstehen, hinschauen, staunen können – und noch einmal: keine voreiligen Schlüsse ziehen. Am Ende zeigte sich der Auferstandene selbst, wo und wie er es wollte.

Das Evangelium verkündet uns die Osterbotschaft still, suchend und auch zweifelnd; es lässt ehrlichen Dialog zu. Es polarisiert nicht, schlägt keine Türen zu. Es drängt sich nicht auf. Es steht in wohltuendem Kontrast zu forsch und lauthals vorgetragenen alternativlosen Erklärungen, Folgerungen und Forderungen. Die Präsenz des Auferstanden geht den Jüngern erst nach und nach im Zeichen seiner Nicht-Präsenz auf.

Ich meine, auf die Rhetorik alternativloser Standpunkte zu verzichten, ist auch eine kluge Entscheidung, wenn es darum geht, Debatten und Auseinandersetzungen zu gestalten. Und davon gibt es zur Zeit viele. Wir sind in unserer Gesellschaft in der Gefahr, dass diese Debatten bei aller Scheinliberalität immer hysterischer, immer unduldsamer, immer manipulativer geführt werden. Uns wird über Medien und Netzwerke massiv und sehr effektiv eingetrichtert, was wir zu denken und zu wollen haben. Das gilt bisweilen auch für die Reformdiskussionen, die wir innerhalb der kath. Kirche führen – ganz egal, wie man persönlich nun zu einzelnen Inhalten steht. Nichts ist alternativlos. Leise Töne sind immer hilfreich, lautstarke Patentrezepte nie. Ich arbeite seit fast 20 Jahren als Theologieprofessor an einer Universität im europäischen Ausland, mit Studenten aus aller Herren Länder: meistens aufgeschlossenen, intelligenten, engagierten und aufrichtigen jungen Christinnen und Christen. Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar. Wenn mir in dieser Zeit eines klar geworden ist über unsere Katholische Kirche, dann das: Wir sind als Katholiken nicht Teil irgendwelcher lokaler Kirchentümer, sondern immer verwiesen auf die eine Weltkirche — mit ihren ganz unterschiedlichen Sichtweisen und Mentalitäten, die nicht einfach nur deshalb dumm, veraltet oder unreif sind, weil sie vielleicht von unseren  Lieblingsideen und speziellen deutschen Befindlichkeiten abweichen. Die Weltkirche ist das Korrektiv, das uns geschenkt ist, damit unser Denken nicht einseitg, selbstverliebt und provinziell wird. Hören wir also hin, was sie uns zu sagen hat, die Weltkirche! Wir selbst und unsere Positionen sind alles andere als alternativlos.

Wir lernen vom Osterevangelium auch, wo der richtige Ort ist, an dem jeder Einzelne von uns in dem, was ihn / sie bewegt, das Leben und den Lebenden suchen und finden kann: Hinhören auf andere und ihre Worte ernstnehmen, den geistigen Horizont erweitern, uns vortasten statt mit Patentlösungen aufwarten, leise Töne anschlagen, Türen offenhalten, selbst genau hinschauen wie Petrus und sich ein eigenes Bild machen, notfalls eingestehen, dass man nicht imstande ist, sich ein ernsthaftes eigenes Bild zu machen, und dann erst einmal schweigen und schließlich die Offenheit, die Anwesenheit des Auferstandenen im Zeichen seiner Abwesenheit zu suchen.

Das ist eine Frage der Einübung in die österliche Sichtweise des Lebens. Und wenn wir diese Haltungen unser ganzes Leben eingeübt haben, werden wir uns irgendwann vor dem Auferstandenen selbst einfinden, der am Ufer steht und uns zuruft: „Ich bin es, fürchtet Euch nicht!“. Amen.

von P. Klaus-Ludger Söbbeler OSB

Keiner kann Lebensglück erzwingen, – weder durch Leistung noch durch perfekt geplante Karriere- und Lebensstrategien.

Von daher versteht sich, dass jede und jeder von uns manchmal dasteht wie der ältere Sohn: Wir haben alles richtig gemacht, aber sehen nicht den erwarteten Ertrag, weil das Leben eben kein Lohnbüro ist, weil das Schicksal keine Tarifverträge kennt, die man bei Arbeitsgericht einklagen kann.
Manchmal läuft es aber – Gott sei Dank – auch andersherum:  Wir stehen da wie der jüngere Sohn, der beschenkt und gefeiert wird, – obwohl er weiß, dass er das alles andere als „verdient“ hat.

Was im Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ geschieht, ist unverdient. Das erleben die beiden Brüder auf ihre je eigene, völlig gegensätzliche Art und Weise. Und auf ihre Art haben auch beide Recht:  Der jüngere Sohn konnte nicht mit Großzügigkeit rechnen, weil er sich völlig verrannt hatte. Und der ältere Sohn meint, er sei nicht auf Großzügigkeit angewiesen, weil er Leistung erbracht hatte und sich berechtigt sieht, dem Vater mangelnde Lohngerechtigkeit vorzuwerfen.

Beide Brüder erleben, dass ihre eigenen Möglichkeiten und Denkmuster ausgereizt sind und nichts bringen. – Doch jetzt kommt der gewichtige Unterschied, auf den Jesus mit dem Gleichnis hinauswill. Beide gehen mit diesem entscheidenden Augenblick grundverschieden um:
Der Ältere sucht den Fehler beim Vater, der nicht seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit entspricht. Nicht die Beziehung zum Vater ist ihm wichtig, sondern dass der Vater seine Forderung erfüllt. Er will den Vater nicht als Vater, sondern als Chef mit Lohnbüro.

Genauso hatte der jüngere Sohn angefangen, als er sich das ihm erbrechtlich zustehende Geld beim Vater abholt, um es dann durchzubringen. Nur hat er, im Unterschied zum älteren Bruder, dazugelernt: Geld bringt spätestens dann nichts mehr, wenn es ausgegeben ist. Aber, o wirkliches Wunder! Er erlebt: Mit leeren Händen dastehen heißt nicht, ins Leere greifen, sondern mit leeren Händen dastehen macht die Hände, den Geist, das Herz frei, um sich vom Vater umarmen zu lassen. Endlich darf der Vater Vater sein und muss sich nicht mehr als Lohnauszahler missbrauchen lassen. Deshalb ist das unsägliche Glück dieser Situation beidseitig und deshalb ein wirklicher Grund zum Feiern: Der jüngere Sohn ist erlöst aus seiner selbstverschuldeten Verstrickung und der Vater darf sein, wer er wirklich ist

Der Vater steht dafür, dass das „Ende des Lateins“, nicht das Ende aller Dinge ist. Vorbei ist zwar der Versuch, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Aber etwas anderes, bisher Unmögliches fängt neu an: Zu empfangen – statt „nimm was du kriegen kannst“, Beschenkt Werden – statt Verdienen:   Zuneigung, Vertrauen, Schenken, Beschenkt Werden, Feiern, Da-Sein-Dürfen ohne Berechnung, – kurz all das, was in klassischer Kirchensprache den „Himmel“ ausmacht. –
Der Himmel fängt an, wo einer davon ablässt, das Paradies auf Erden zu erzwingen: An dieser Stelle ist der jüngere Bruder dem älteren um einen entscheidenden Schritt voraus.

Den Himmel kann man sich nicht verdienen; wer seine Schultern bepackt mit seinen Leistungsansprüchen an sich selbst und an die anderen, bleibt Buchstäblich „in der Himmelstür hängen“, wie der ältere Sohn, –  so wie der jüngere Sohn die Tür nicht gefunden hat, solange er meinte, den Himmel mit seinem Jet-Set-Leben auf eigene Faust organisieren und kaufen zu können.

Himmel ist da, wo Menschen Gott eine Chance lassen, so wie der jüngere Sohn dem Vater die Chance ließ, einfach gut und großzügig zu sein. Wer den Himmel sucht, braucht nichts anderes tun, als den Menschen und Gott die Gelegenheit zu geben, großzügig zu sein. Großzügigkeit annehmen, ohne sich zu schämen und sich zu freuen, wenn anderen Großzügigkeit erwiesen wird: Das ist der Himmel, für den wir Menschen bestimmt sind und außerhalb dessen wir unter unseren Möglichkeiten bleiben.

So lange einer den Großmotz gibt, der Großzügigkeit weder annehmen noch schenken kann, sondern sie als schwächlich verachtet oder plump ausnutzt, so lange hat niemand – kein Mensch und kein Gott – die Chance, ihm gegenüber großzügig zu sein, solange ist buchstäblich „Hölle“ angesagt.

Hier liegt die Frage, vor die uns das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ stellt: Auf welcher Seite finde ich mich wieder?
– Auf der Seite des älteren Sohnes, der Gott nicht Gott sein lässt, weil er alles selber macht, so als wäre er selber Gott?
– Oder sehe ich mich auf der Seite des jüngeren Sohnes, der die Großzügigkeit des Vaters annimmt, weil er Gott seinen Gott und seinen Vater sein lässt?

von Br. Robert Sandrock OSB

Liebe Schwestern und Brüder,

vor vielen Jahren, als man noch ohne Maske dicht an dicht im Zug saß, sprach mich meine Sitznachbarin, eine ältere Dame, an. Wir kamen in ein längeres Gespräch, und nach einiger Zeit zeigte sie mir, dass sie gerade ein Buch über Brustkrebs las. Natürlich wollte ich nicht indiskret sein, und gleich zu Beginn nach ihren Krankheiten fragen. Deshalb fragte ich: „Sind Sie Ärztin oder Krankenschwester?“ Ihre Antwort war direkt: „Nein, ich bin selbst an Brustkrebs erkrankt, und ich bin froh darüber.“ Sie teilte mir mit, dass sie erfolgreich operiert worden war, aber natürlich könne sie nicht sicher sein, dass der Krebs nicht doch irgendwann zurückkehre. Dadurch habe sie gelernt, das Leben mehr zu schätzen und jeden Tag bewusster zu genießen. Wir tauschten unsere Adressen aus und blieben viele Jahre in Kontakt. Sie hatte als Krankenschwester und Reiseleiterin gearbeitet, ihr Mann war aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurückgekommen und die einzige Tochter hatte den Kontakt mit ihr abgebrochen. Neben einem – nicht aufdringlichen – Glauben an Gott wurde sie von ihrem Sinn für Kunst durch das Leben getragen. „Ich habe so viel Schönes sehen dürfen“, schrieb sie mir einmal.

Wo finden wir Orientierung angesichts der vielen Katastrophennachrichten? Auf den Gedanken, bei den Bischöfen oder im Hirtenbrief nach Orientierung zu suchen, wird in diesen Tagen wohl niemand kommen. Aber die Leseordnung der Kirche bietet uns heute einen der schönsten und wichtigsten Texte der Bibel. Mose, ein Flüchtling aus Ägypten, hat beim Hirtenvolk der Midianiter Obdach gefunden und ist jetzt der arme Schwiegersohn eines Priesters und Herdenbesitzers. Mitten in seinem banalen, langweiligen Alltag macht er eine Gotteserfahrung und bekommt einen Auftrag, der seine Langeweile vertreibt, aber auch seine Sicherheit für immer beendet: „Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus.“ Es ist der Auftrag, das unterdrückte Volk zu befreien. Der Auszug aus Ägypten, die Befreiung aus dem Sklavenhaus, wird das Urerlebnis des Volkes Israel werden, und auch wir werden in vier Wochen, in jener wunderbaren Osternacht, wieder die Lesung vom Durchzug durch das Rote Meer in die Freiheit hören. Gott sagt, „Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie zu befreien.“ Gott kennt das Leid der Männer, Frauen und Kinder, die zu Opfern von brutalen Diktatoren geworden sind, er kennt das Leid der Flüchtlinge, der Kranken und Einsamen, er kennt das Leid der Schöpfung, und er kennt auch unser Leid. Wir dürfen bei der Aussage, „Ich bin herabgestiegen“, durchaus daran denken, dass Gott Mensch geworden ist, dass er am Kreuz gestorben ist. Nicht umsonst empfinden so viele Menschen das Bild von Jesus am Kreuz oder das Bild von Maria mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß als so tröstlich.

Aber das ist immer noch nicht der Höhepunkt der heutigen Lesung: Gott hat einen Namen, einen unaussprechlichen, einen geheimnisvollen Namen. Für die Juden wurde der Name so heilig, dass nur noch der Hohepriester ihn aussprechen durfte, wenn er einmal im Jahr am höchsten Festtag das Allerheiligste des Tempels betrat. Seit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. weiß niemand mehr mit Sicherheit, wie der Name Gottes auszusprechen ist, zumal im hebräischen Urtext der Bibel nur die Konsonanten J – H – W – H überliefert sind. Nach alter Tradition steht an den fast 7000 Stellen, wo der Gottesname im Alten Testament vorkommt, die Übersetzung „der Herr“.

Die Deutung, die unser Text uns gibt, ist eher ein Rätsel als eine Erklärung: „Ich bin der ich bin“. Die ältere Einheitsübersetzung hat an die Erfahrung gedacht, dass Gott uns immer begleitet, auch im Leid, und deshalb übersetzt: „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘.“

„So viel Schönes“ hat meine alte Freundin in ihrem Leben erfahren dürfen. Auch wir machen in diesen Tagen viele schöne, tröstliche Erfahrungen: All die vielen Menschen, die sich jetzt in ihrem Alltag, in ihrer Langeweile und in ihrer Sicherheit stören lassen, die Platz für Flüchtlinge bereit stellen, die Spenden geben, die sich auf Schulhöfen in Blau und Gelb gekleidet aufstellen, um die ukrainische Fahne nachzubilden, all die vielen kleinen und großen Zeichen der Solidarität. Unserer Abtei sind in der vergangenen Woche fast die Kerzen ausgegangen, weil so unerwartet viele Menschen eine Kerze in der Marienkapelle angezündet haben. Viele von uns sind in den vergangenen Wochen und Monaten an Corona erkrankt – und genesen. Wir können froh und dankbar sein, dass es eine Impfung gibt und gute – leider schlecht bezahlte – Krankenpfleger, gute Forscherinnen und Ärzte in unserem Land. Sogar – das ist leider etwas untergegangen angesichts der vielen schlechten Nachrichten – in unserer Kirche scheint sich durch das unaufhörliche Engagement von Christen und besonders Christinnen etwas zu bewegen. Zumindest stimmen die Beschlüsse des Synodalen Weges von Anfang Februar hoffnungsvoll.

Auch wenn wir nicht wie Mose ein ganzes Volk befreien können – und das auch nicht müssen –, so können wir doch unseren kleinen Beitrag leisten. Es ist schön, dass Energiesparen jetzt gegen den Klimawandel und auch gegen Diktatoren hilft. Gott sagt uns zu, dass er uns in unserem Leben begleitet: „Ich bin da, ich kenne euer Leid, ich bin herabgestiegen, um euch zu befreien.“

von P. Erasmus Kulke OSB

Liebe Schwestern und Brüder,

dieser Jesus muss schon eine gewisse Faszination auf Petrus und seine Fischerkollegen ausgeübt haben. Sonst wären sie wohl nicht seiner Aufforderung gefolgt und wären ein weiteres Mal zum Fischen auf den See hinausgefahren. Immerhin hatten sie sich die ganze Nacht völlig umsonst abgemüht und nichts gefangen. Und Jesus war kein Fachmann in Sachen Fischerei. Und trotzdem haben sie auf ihn gehört. Vielleicht waren sie von dem Wort Gottes, dass er gerade den Menschen verkündet hatte, so tief berührt. Vielleicht haben sie es aus Dankbarkeit getan, weil Jesus zuvor schon die Schwiegermutter des Petrus geheilt hatte. Jedenfalls machen sie nun den Fang ihres Lebens. Die Netze, die in der Nacht gähnend leer geblieben waren, sind nun über und über voll mit Fischen, so dass sie zu reißen drohen. Und da schwant es wohl dem Petrus: hier muss Gott selbst seine Hand im Spiel haben. Hier steht ihm in Jesus der Heilige Gottes gegenüber. Und da bekommt er es mit der Angst zu tun. Er hat Angst, dass er vor Gott nicht bestehen kann. „Geh weg von mir; denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr“, platzt es aus ihm heraus. Im Angesicht des Heiligen und Reinen schlechthin fühlt er sich „schmutzig“, sündig, unrein und unwürdig.
Ähnlich ergeht es Jesaja, von dem wir in der Lesung gehört haben. Als er Gott zu Gesicht bekommt ruft er aus: „Weh mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich.“
Angst vor Gott, Angst, vor ihm nicht bestehen zu können: ich glaube, dass es das bei vielen Gläubigen heute immer noch gibt, auch wenn das manchen vielleicht gar nicht so bewusst ist. Die Älteren von uns sind vielleicht noch von einer schwarzen Pädagogik geprägt, in der den Kindern Angst vor Gott gemacht wurde, um sie gefügig zu machen. „Ein Auge ist, das alles sieht, selbst was in dunkler Nacht geschieht!“
Auch manches Kirchenlied vermittelte ein angstmachendes Gottesbild, wie z.B. „Strenger Richter aller Sünder, treuer Vater deiner Kinder, der du in dem Himmel wohnst, drohest, strafest und belohnst.“
Gott als strenger und strafender Richter, als akribischer Buchhalter, der Zeit meines Lebens jede noch so kleinste Sünde unerbittlich notiert, solche angstmachenden Gottesbilder sitzen oft sehr tief, oft in unserem Unbewussten und gerade deshalb werden sie gar nicht so selten an nachfolgende Generationen
weitergegeben, auch das oft unbewusst.
Letztlich sind das dämonische Gottesbilder, denn sie führen uns von Gott weg. Denn wie soll ich jemanden lieben, vor dem ich in meinem tiefsten Innern Angst habe. Den werde ich mir doch vielmehr weit vom Leib halten. Und so lebe ich in einem ständigen Zwiespalt.
Das Ermutigende an dem heutigen Evangelium ist, dass es Jesus gar nicht stört, dass Petrus ein Sünder ist. Das wusste er ja sicherlich schon, bevor Petrus es bekannt hat. Vielmehr sagt er zu ihm: „Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen.“
Ja, vor Gott müssen wir uns nicht fürchten, weil wir unvollkommen sind, manchmal Böses denken oder tun, versagen, weil wir Sünder sind. Das ist zutiefst menschlich. Das ist unsere Wahrheit. Doch Gott liebt uns so, wie wir sind, bedingungslos. Und so, wie wir sind, mit unseren Grenzen und Schwächen, will er auch uns in seinen Dienst nehmen. So wie den Petrus, der ihn dreimal verleugnet hat, und der trotzdem der Apostelfürst geworden ist und gemeinhin als erster Papst gilt. So wie Jesaja. So wie viele andere „Helden“, die uns in der Bibel begegnen und die oft gar nicht heldenhaft daherkamen. Der folgende Text bringt es auf den Punkt:

Jakob war ein Betrüger,
Petrus war impulsiv,
David hatte eine Affäre,
Noah betrank sich,
Jonah lief von Gott weg,
Paulus war ein Mörder,
Miriam war eine Tratschtante,
Martha machte sich viele Sorgen,
Gideon war unsicher,
Thomas war ein Zweifler,
Sarah war ungeduldig,
Elijah war depressiv,
Moses stotterte,
Zachäus war klein,
Abraham war steinalt
und Lazarus war tot.
Gott ruft nicht die Qualifizierten. Er qualifiziert die Berufenen.

Einer, der das begriffen hat und es auch lebt, ist unser Papst Franziskus. Wenige Monate nach seiner Wahl zum Papst hat er in einem Interview gesagt: „Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition. Und es ist keine Redensart, kein literarisches Genus. Ich bin ein Sünder.“ Dieses Bekenntnis aus dem Munde eines Papstes hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Dieses Bekenntnis aus dem Munde eines Jesuiten – und das ist Franziskus durch und durch – ist aber gar nicht so verwunderlich. Denn am Anfang der großen ignatianischen Exerzitien, die jeder Jesuit zu Beginn seines Ordenslebens macht, steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Sündhaftigkeit, der Verstrickung in den Strukturen des Bösen – und das begegnet uns schon auf den ersten Seiten der Bibel. Das heißt, man stellt sich seinen eigenen Abgründen, seinen Schattenseiten, seiner eigenen Wahrheit, ungeschminkt. Doch dann geht es in den Exerzitien weiter und der Exerzitant richtet seinen Blick auf Jesus, wie er aus lauter Liebe zu uns Menschen vom Himmel herabsteigt und Mensch wird, wie er uns sündige Menschen in seine Nachfolge ruft und wie er in seiner großen Liebe bis zum Letzten geht und für uns sein Leben hingibt. In den Exerzitien erkenne ich also nicht nur, dass ich ein Sünder bin, sondern zugleich, dass ich als Sünder in unvorstellbarem Maße von Gott geliebt bin – und von ihm berufen bin. Und das ermöglicht mir, mich selbst anzunehmen, zu meinen Schwächen, meinem Versagen, zu meinen Schattenseiten zu stehen. Und das gibt mir eine große innere Freiheit, die es mir ermöglicht, der Liebe in meinem Leben mehr Raum zu geben, das Böse durch das Gute zu besiegen – mit Gottes Hilfe.
Ja, vor Gott brauche ich keine Angst zu haben. Er liebt mich so wie ich bin. Und so wie ich bin, will er mich als Mitarbeiter an seinem Reich des Friedens.
Und so möchte ich schließen mit Worten eines unbekannten Verfassers, die mit „Ermutigende Worte Jesu an Dich!“ überschrieben sind:

„Ich kenne dein Elend, die Kämpfe, die Drangsale deiner Seele, die Schwächen deines Leibes. Ich weiß auch um deine Feigheit, deine Sünden, und trotzdem sage ich dir: ‚Gib mir dein Herz, liebe mich, so wie du bist!‘
Wenn du darauf wartest, ein Engel zu werden, um dich der Liebe hinzugeben, wirst du mich nie lieben. Wenn du auch feige bist in der Erfüllung deiner Pflichten und in der Übung der Tugenden, wenn du auch oft in jene Sünden zurückfällst, die du nicht mehr begehen möchtest, liebe mich, so wie du bist!
In jedem Augenblick und in welcher Situation du dich auch befindest, im Eifer oder in der Trockenheit, in der Treue oder Untreue, liebe mich, so wie du bist! Ich will die Liebe deines armen Herzens; denn wenn du wartest, bis du vollkommen bist, wirst du mich nie lieben!
Wenn du mir deine Liebe schenkst, werde ich dir so viel geben, dass du zu lieben verstehst, weit mehr als du dir erträumen kannst. Denke jedoch daran, mich zu lieben, so wie du bist!“

von P. Guido Hügen

„Du aber gürte dich, tritt vor sie hin und verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage!
Erschrick nicht vor ihnen
– denn ich bin mit dir, um dich zu retten
– Spruch des Herrn.“

Worte aus der heutigen Lesung.

„Nach 2000 Jahren steckt die Kirche Roms
in den Schuhen des Fischers fest im Sumpf.
Eine Hand mit dem Fischerring
will sich flehentlich zum Himmel erheben.
Doch der Himmel brennt,
die Engel fliehen
und überall sind dunkle Wolken.“

Worte aus einem Leserbrief der WP vom Freitag.

Und dazwischen feiern wir Gottesdienst.

„Ihr müsst bitte ganz dringend damit aufhören“,
sagt Gott im gerade neu erschienen Buch von Annette Jantzen:
„Wenn Gott zum Kaffee kommt“.

„Womit?“ frage ich.
„Ruft mich nicht weiter in Eure Kirchen und Gebete,
als wäre nichts gewesen.“

Ein Outing im Ersten Programm
von über 120 Mitarbeitenden der Kirche,
die sich als homosexuell und queer bekennen,
zu ihrer Liebe und zu ihrer Lebensform stehen.

Ein Gutachten,
das Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
und deren Vertuschung
wieder einmal bloßlegt.

Und gerade vor drei Tagen
wurde die KPE, eine sehr fundamentalistische
Pfadfindergruppierung
von der Bischofskonferenz anerkannt.

Menschen aus meinem engsten Freundeskreis
treten aus der Institution Kirche aus.
Menschen, von denen ich weiß,
wie wichtig ihnen ihr Glaube ist.

Dass es „nicht mehr so weiter geht“,
dass sich etwas ändern muss in der Kirche,
das haben in den letzten Tagen
etliche Bischöfe und Generalvikare gesagt.

Der „Synodale Weg“
mag ein Hoffnungszeichen sein.
Aber torpedieren ihn nicht schon viel zu viele
Bischöfe, Menschen unter uns?

Braucht es wirklich erst
den totalen Zusammenbruch?!

Weit davon entfernt sind wir nicht mehr,
auch wenn manche es immer noch
nicht verstehen wollen.

Der Prophet Jeremia erfährt,
wie Gott ihm den Rücken stärkt für seine Botschaft.
Sogar gegen die
„Könige und Priester und die Bürger des Landes.“

Propheten sind keine Weissager
oder Kaffeesatzleser Gottes.

Sie sollen die Worte Gottes verkünden,
sollen eintreten für seine Botschaft der Liebe und Freiheit.

Gelegen oder ungelegen.

In der Taufe wurde es auch uns
bei der Salbung mit dem Chrisam zugesagt:
Als Glied Christi
sind wir „Priester, König und Prophet in Ewigkeit.“

Und was heißt das?

Es macht wohl wenig Sinn,
immer nur und immer wieder
auf Missbrauchsgutachten, Aktionen
und Hashtags zu schauen.
So grundlegend wichtig sie sind!

Aber: müssen wir nicht erst einmal auf uns selbst schauen?

Mich wird Gott einmal fragen:
„Was hast du getan?“

Vieles habe ich getan
in meinem Leben.

Viele Versagen gab es.
Für manche konnte ich um Verzeihung bitten.
Bei manchen hatte ich noch nicht den Mut.

Das trifft uns als Gemeinschaft.
Stehen wir zur Schuld des Einzelnen,
zu unserer gemeinsamen Schuld?

Das trifft jeden Einzelnen, jede Einzelne von uns
– uns alle, die wir hier zusammen sind.

Wir haben nicht die Unschuld Jesu,
der „mitten durch sie hindurch schritt
und wegging.“

Wir haben Schuld.
Auch wenn wir sie gerne verdrängen.

Ist es nicht an uns,
sie einzugestehen,
auf den oder die andere zuzugehen
und um Verzeihung zu bitten?

Pfarrer Andreas Fink
fragt in einem Video-Clip sehr eindringlich:
„Wo sind wir denn daran beteiligt,
dass Verbrechen geschehen konnten,
dass Verbrechen verdeckt wurden,
dass Menschen auch ob ihrer sexuellen Identität
ausgegrenzt, kirchlich ausgeschlossen wurden?“

Ich kann mich da nicht freisprechen.

Doch die Botschaft Jesu ist klar.

Unser Evangelium von heute ist eine Fortsetzung
des Evangeliums des vergangenen Sonntags.

Da sagt Jesus:
„Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht.“

Wenn wir die frohe Botschaft wieder verstehen,
wenn wir uns aus unserer Gefangenschaft
in das oft so Enge und Traditionelle befreien lassen,
wenn wir uns die Augen öffnen lassen
und wieder neu sehen

– ob wir dann nicht endlich wieder
zu Prophetinnen und Propheten werden?!

„Alle sollen es hören und sich freuen.“
Diese leicht abgewandelten Worte aus dem Psalm 34
sind für mich seit langem
Richtschnur und Weisung.

Ja, alle sollen die frohe Botschaft hören,
sollen sich endlich wieder freuen können.

Mich treffen die Worte von Annette Jantzen,
wenn sie Gott antwortet,
warum sie denn trotzdem weiter macht
und Gottesdienst feiert.

„Weil ich mich daran festhalten will,
dass du trotzdem noch da bist“, heißt es im Buch.
„Und ich nicht weiß, wohin sonst.“

Und weiter:
„Und weil ich mich vor dem Moment fürchte,
wo ich merke, dass ich das alles nicht mehr kann.“

Vielleicht ist es eine gute Aufgabe in die neue Woche hinein,
einmal zu überlegen,
wem ich die gute Botschaft verkünden möchte?!

Wo ich Gewalt und Machtmissbrauch,
wo ich Ohnmacht, Scham und Wut
ein Positives entgegen setze.

„Du aber gürte dich, tritt vor sie hin und verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage!
Erschrick nicht vor ihnen
– denn ich bin mit dir, um dich zu retten
– Spruch des Herrn.“

 

 

Annette Jantzen, Wenn Gott zum Kaffee kommt, Echter Verlag Würzburg, 2022

von P. Cosmas Hoffmann OSB

Lesejahr C
Lesung: 1 Kor 12,12-31a
Evangelium: Lk 1,1-4;4,14-21

Das antike Korinth war eine Metropole des Handels, eine Weltstadt, in der Menschen verschiedener Völker, Kulturen und Religionen lebten.
Teil dieser bunten Gesellschaft war auch die christliche Gemeinde von Korinth. Paulus selbst hat sie im Jahr 50 gegründet und war aufgrund seines anderthalbjährigen dortigen Aufenthalts gut mit ihr vertraut.
Die meisten der ca. hundert Gemeindemitglieder stammten aus heidnischen Traditionen, doch gab es auch einen bedeutenden judenchristlichen Anteil. Die Mehrheit bildeten Sklaven, Freigelassene, Hafen- und Lohnarbeiter, Matrosen und Handwerker, dazu kamen einige wenige begüterte und angesehene Leute.
Diese Vielfalt sozialer und religiöser Prägungen forderte die Gemeinde heraus und führte zu vielfältigen Spannungen und Spaltungen in theologischen, ethischen und sozialen Fragen. Diese Streitigkeiten veranlassten Paulus schließlich, der Gemeinde von Korinth einen Brief zu schreiben.

In den Spannungen der Gemeinde von Korinth zeigt sich ein Thema, dass die Kirche Jesu Christi bis heute begleitet: Die Verbindung von Einheit und Verschiedenheit.
Wie aktuell dieses Thema bis heute ist, zeigt sich nicht zuletzt an der am vergangenen Mittwoch begonnenen diesjährigen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen (18. – 25.01.2022).

Um die notwendige Verbindung von Einheit und Vielfalt in Kirche und Gemeinde zu illustrieren, nimmt Paulus in seinem Brief das in der Antike populäre Bild des menschlichen Organismus auf: Wie der Leib nur einer ist und trotzdem viele Glieder hat, so hat die Gemeinde viele Glieder, ist aber nur ein Leib.

Paulus weist darauf hin, dass die Gemeinde nicht nur in irgendeiner Beziehung zum Leib Christi steht, sondern der Leib Christi ist: „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (12,27). Denn „durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen“ (12,13).
D.h., die Gemeinde muss sich nicht erst durch ihr Verhalten zum Leib Christi entwickeln, sondern an ihrem Leben soll erkennbar werden, was alle durch die Taufe schon sind: Leib Christi.

So verdeutlicht Paulus mit dem Bild vom Organismus des Leibes Christi sowohl das Verhältnis der Gemeinde zu Christus, als auch die Beziehungen der einzelnen Glieder untereinander. Sie sind aufgrund ihrer Verschiedenheit zwar nicht gleichartig, wohl aber gleichwertig. Alle Glieder des Leibes sind gleich wichtig und gleich nötig, sie sind aufeinander abgestimmt und voneinander abhängig.

Wenn Einheit nicht mit Einheitlichkeit verwechselt wird, können Vielfalt und Verschiedenheit als ein Reichtum erfahren werden, der allen dient.
Dann gilt: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit.“ (12,26)

Der Theologe Gotthard Fuchs nimmt dieses Bild auf und denkt es systemisch weiter. Dabei knüpft er an die Methode der Fußreflexzonenmassage an: „Jeder Massagedruck an Fersen, Sohle, Zehen schickt energetische Grüße an das entsprechende Organ und kann über gesund und krank informieren. … Schon der kleine Zeh kann seismographisch auf Störungen im Gesamtsystem aufmerksam machen.“ Übertragen auf den Leib Christi bedeutet das: „Jeder einzelne Christ zum Beispiel kann für den kirchlichen Gesamtkörper … von größter Signalwirkung sein, mindestens in diagnostischer Sicht. … Vermutlich würde man bei einem der Organe, die sich gern für besonders zentral halten, erhebliche Infektionen oder gar Krankheiten feststellen, die bis zum kleinen Zeh durchschlagen: in Gestalt zum Beispiel eines klerikalistischen Amtsverständnisses oder einer obrigkeitlichen Kirchenauffassung. Womöglich müsste am Gesamtkörper eine Immunschwäche diagnostiziert werden: Glaubensmüdigkeit, Mittelmaß, mangelnde Leidenschaft“ (CiG Jg. 69 (2017), 459).

Diese Diagnose des kirchlichen Gesamtkörpers ist uns schon seit einigen Jahren bekannt. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hat sich Papst Franziskus z.B. gegen den Klerikalismus und den mangelnden Kontakt vieler kirchlicher Amts- und Würdenträger zu den Menschen und ihren Lebenswelten gewandt.

Aktuell präsent wurde dies am vergangenen Donnerstag in München, als die Gutachter einer Kanzlei das mehrbändige Ergebnis ihrer Arbeit als „Bilanz des Schreckens“ vorstellten, was die Öffentlichkeit erneut erschütterte und weiterhin bewegt.

Viele haben mittlerweile das Vertrauen in die Kirche verloren, für manche bleibt nur noch der Kirchenaustritt.
Angesichts dieser Situation betont Bischof Overbeck von Essen die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen und die Ursachen des Missbrauchs-Skandals zu erkennen und zu überwinden, zudem sagt er: „Wir müssen uns als katholische Kirche erneuern; gerade bei den großen Fragen der Machtkontrolle, der Geschlechtergerechtigkeit und der Sexualmoral, um nur einige Themen zu nennen, die beim Synodalen Weg kontrovers diskutiert werden. … Das wird nur gelingen, wenn wir keine Kirche des Stillstands sind, sondern eine Kirche des Aufbruchs und Neubeginns“ (WP 22.1.22, PPL2).

Für eine Kirche des Aufbruchs und Neubeginns bietet das heutige Evangelium programmatische Orientierungspunkte, denn hier stellt Jesus zu Beginn seines Wirkens in Nazareth mit den Worten des Propheten Jesaja fünf Kernpunkte seiner Verkündigung vor:

  • Den Armen eine frohe Botschaft bringen, d.h. Zuwendung zu den Armen und Benachteiligten, sich von ihrer Not berühren lassen, ihnen eine Stimme geben und Wege zum Leben zeigen.
  • Den Gefangenen die Entlassung verkünden, d.h. Menschen von Regeln, Strukturen und Haltungen befreien, die Leben verhindern, und sie dafür stärken, den Weg in die Freiheit zu wagen.
  • Den Blinden das Augenlicht geben, d.h. Menschen ermutigen, ihren Blick zu heben, auf- und hinzuschauen, einander Ansehen zu geben und die Augen für die eigene Wahrheit zu öffnen.
  • Die Zerschlagenen in Freiheit setzen, d.h. sich jenen zuwenden, die unter der Last bedrückender Erfahrungen leiden, die von den Erwartungen anderer erdrückt oder von äußeren oder inneren Konflikten zerrieben werden.
  • Ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen, d.h. Versöhnung suchen mit sich und den anderen und gemeinsam neue Wege wagen.

von Br. Anno Schütte OSB

Mit dem heutigen Fest „Taufe des Herrn“ begehen wir im Verlauf des noch jungen Kirchenjahres einen ersten Zeiten-Übergang. Heute endet die Zeit des Weihnachtsfestkreises und gleichzeitig beginnt die Zeit im Jahreskreis – das Fest „Taufe des Herrn“ ist auch der 1. Sonntag im Jahreskreis. Wir feiern noch Weihnachten und sind schon im Anfang des Alltags. Dieses einzigartige Doppel-Phänomen weist darauf hin: Was wir Weihnachten feiern, die Geburt Jesu – die Menschwerdung Gottes – verwirklicht sich im Alltag.

Miteinander verbunden sind auch die Berichte von Johannes und Jesus in den ersten Kapiteln des Lukasevangeliums, die unserem heutigen Abschnitt vorausgehen. Die Verwobenheit der beiden endet mit der Taufe Jesu. Kurz und knapp: Johannes tritt ab – Jesus tritt auf.

Von Johannes‘ brutalem Abgang erfahren wir im Evangelium, doch hat die kirchliche Leseordnung diese Verse, die direkt vor der Taufe Jesu stehen, leider weggekürzt. Dort heißt es: „Johannes tadelte auch den Tetrarchen Herodes wegen Herodias, der Frau seines Bruders, und wegen aller Schandtaten, die er verübt hatte. Herodes fügte zu allem noch dies hinzu, dass er Johannes ins Gefängnis werfen ließ.“

Johannes, der Täufer und mahnende Rufer in der Wüste, spitzt seine geradlinige Botschaft der Umkehr und Buße zu: Er konfrontiert auch den Repräsentanten der verhassten römischen Besatzungsmacht mit dessen eigensüchtigen Machtspiel. Später wird Johannes seinen Mut mit dem Leben bezahlen müssen.

Damit spannt Lukas noch vor dem Beginn des öffentlichen Wirken Jesu einen inhaltlichen Bogen ans Ende des Evangeliums: Auch Jesus wird man gefangen nehmen, ihn töten und sogar noch sein Grab zu einem Gefängnis machen. Denn: Seine Botschaft ist nicht harmlos! – Gegen alle menschliche Erfahrung wird dieses Grab sich öffnen, leer sein. Gott verwandelt Tod in Leben – das feiern wir Ostern.

Der Grund für diesen finalen Wandel wird uns schon heute bei der Taufe Jesu vorgestellt. Hier öffnet sich der Himmel und der Mensch Jesus wird angesprochen: „Du bist mein geliebter Sohn.“ Diese Formulierung entwickelt ihren Gehalt auch vor dem Hintergrund der antiken Abstammungslehre. Nach der war ein Sohn ausschließlich der Abkömmling seines biologischen menschlichen Vaters. Die Stimme aus dem Himmel macht deutlich, dass dieser Mensch Jesus seinem Wesen nach von himmlischem, also göttlichem Ursprung ist. Die Dogmatik sagt: Er ist eines Wesens mit dem Vater. – In ihm hat Gott sich unüberbietbar offenbart. Er hat sich der ganzen Welt hingegeben und diese Liebesquelle fließt immer, sie ist unzerstörbar, sie wird nie versiegen – sie wird auch den irdischen Tod in göttliches Leben verwandeln.

Die Möglichkeit einer Verwandlung können auch wir uns schenken lassen. Voraussetzung dafür ist, dass wir uns für das Geschenk der Liebe Gottes öffnen, dass wir uns lieben lassen. Jesus tut das bei seiner Taufe: Er betet und das ist für mich eher ein waches Hören als ein selber Sprechen. Gott offenbart sich als Mitteilender und Jesus wird ein durch und durch Empfangender. Später wird er sagen: „Was macht ihr viele Worte beim Beten? Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr darum bittet.“ Sein Hören gründet tief in seinem Menschsein. Dieser Tiefe entspricht auch die Lage des Taufortes: Johannes tauft Jesus am Jordan, der durch ein Grabensystem fließt, das weit unter dem Meeresspiegel liegt. Diese geografische Tiefe entstand durch einen Aufbruch der Erde, der Erdplatten. Hier, ganz unten, wo – wortwörtlich – Irdisches zerbrochen und sonst nur Wüste ist, öffnet sich der Himmel und die Gnade fließt wie der Jordanfluss. Dieser Ort passt zum Menschsein wie es von Natur aus ist und wie es zum Menschwerden aus Gnade werden kann. In seinem Leben wird Jesus nach unten gehen, zu den Ausgegrenzten, den Verachteten, den Gescheiterten – ihnen schenkt er ihre göttliche Würde und menschlichen Selbst-Wert zurück.

Auch diese Kirche hat so einen tiefsten Ort. Er ist hier vorn – ganz nah am Altar – dort legen wir Brüder unsere Gelübde ab.

Johannes tauft nur mit Wasser und verheißt, dass Jesus mit Heiligem Geist und mit Feuer taufen wird. Wieder wird ein großer Bogen über das Leben Jesu gespannt: Aus dem endgültigen österlichen Aufbruch wird Jesus den Jüngern seinen Heiligen Geist senden und der wird sie entflammen. Jetzt erfahren sie endgültig, was Jesus schon bei seiner Taufe vernahm: Alle sind geliebte Söhne und Töchter Gottes.

Jedes Leben ist heilig. Und es ist nicht egal, was wir tun und lassen in der kleinen und großen ganzen Welt. Denn heilig ist das Gegenteil von egal.

von P. Erasmus Kulke OSB

Nun ist es endlich wieder soweit, liebe Schwestern und Brüder! Die Zeit des Advents, die Zeit des Wartens und der vielen Vor­bereitungen, die oft stressige, mit vielen Terminen vollge­packte Zeit ist vorbei: Die Heilige Nacht ist da. Weih-Nacht!

Wir feiern Weihnachten. Das Fest der Liebe, das Fest der Familie. Alles ist schön rausgeputzt. Die Tannenbäume sind aufgestellt und liebevoll dekoriert mit roten und goldenen Ku­geln, silbernem Lametta, bunten Lichtern und vielem mehr. Viele haben zuhause ihre Weihnachtskrippe mit wunderschö­nen, ja vielleicht sogar kostbaren Figuren aufgestellt. Das Festessen ist vorbereitet. Die ein oder andere Flasche mit köst­lichen Tropfen liegt kalt und wartet darauf, von uns entkorkt und genossen zu werden. Wir machen es uns gemütlich bei Kerzenschein, tauschen Geschenke aus und feiern im Kreis der Familie, im Kreis unserer Lieben. Und wir lassen uns anrühren von gefühlsbeladenen Liedern, die vom „trauten hochheiligen Paar“ und dem „holden Knaben im lockigen Haar“ singen. Idylle pur!

Das alles ist gut und schön! Aber das allein ist noch nicht Weihnachten. Weihnachten ist mehr! Bei aller Idylle über­sehen wir oft, dass das „erste Weihnachten“ alles andere als idyllisch, gemütlich oder gar behaglich war.

Da sind Maria und Josef aus Nazareth, einem damals völlig unbekannten und unbedeutenden kleinen Kaff am Rande der Welt. Sie sind notgedrungen auf dem Weg nach Bethlehem, einer Kleinstadt, dessen alter Glanz als Stadt Davids, des be­rühmten und großen Königs Israels, längst verblasst ist. Maria ist hochschwanger und leidet unten den Strapazen der Reise, dem langen Fußmarsch, vielleicht etwas erleichtert durch einen Esel. Als sie in Bethlehem ankommen, bleiben sie zu­nächst obdachlos und nehmen schließlich Zuflucht zu einem Stall. Und hier, in diesem Dreck bringt Maria ihr Kind zur Welt. Viele unserer heutigen Krippendarstellungen täuschen darüber hinweg, dass es im Stall von Bethlehem schmutzig war, dass es dort gestunken hat, dass die Krippe oder der Futtertrog, in dem Jesus gebettet wurde, kalt und hart war und dass die Windeln des „holden Knaben im lockigen Haar“ sicher nicht das einzige war, was im wörtlichen oder auch übertragenen Sinne „beschissen“ war.

Und was auch oft übersehen wird: Es war Nacht! Und diese stille Nacht, heilige Nacht war sicher nicht romantisch. Die Lesung aus dem Propheten Jesaja bringt hier die Stichworte „Finsternis“ und „Todesschatten“ und macht damit deutlich, wofür die Nacht auch steht, symbolisch. Und schon hier am Beginn des irdischen Weges Jesu scheint die Nacht an seinem Ende auf: die Nacht, in der er verraten wurde und in die Judas Iskariot hinausging. Ja, Krippe und Kreuz sind miteinander verbunden. Krippe und Kreuz sind aus dem gleichen Holz ge­schnitzt. So haben es schon die Kirchenväter gesehen. Diesen Gedanken greift auch ein Weihnachtslied von Jochen Klepper auf, das Eingang in das neue Gotteslob gefunden hat. Da heißt es:

Du Kind, zu dieser heilgen Zeit
gedenken wir auch an dein Leid,
das wir zu dieser späten Nacht
durch unsre Schuld auf dich gebracht.

Die Welt ist heut voll Freudenhall.
Du aber liegst im armen Stall.
Dein Urteilsspruch ist längst gefällt,
das Kreuz ist dir schon aufgestellt.

Warum, liebe Schwestern und Brüder, erzähle ich Ihnen all dieses Schwere und Negative? Sicher nicht, um Ihnen die Weihnachtsstimmung zu vermiesen. Ich glaube vielmehr, dass Weihnachten und seine Botschaft, wenn wir sie tiefer verste­hen und nicht an der romantischen und manchmal auch kit­schigen Oberfläche bleiben, uns wertvolle Impulse und Hilfen geben kann über Weihnachten hinaus, für unser ganz alltäg­liches Leben, für die restlichen 364 Tage des Jahres, insbe­sondere dann, wenn uns nicht nach Feiern zumute ist.

Unser Leben ist ja nicht immer so wie heute. Da gibt es nicht nur Feierstimmung und Idylle. Da gibt es doch auch all das Schwere, Dunkle und Beschissene. Da gibt es Dinge, die uns stinken. Da gibt es Dinge, die uns das Leben schwermachen. Da gibt es Enttäuschungen, Frust, Scheitern, Scham, Schuld, Mutlosigkeit, Resignation und nicht zuletzt die Corona-Pan­demie, mit allen Einschränkungen, Lasten und Leid, die sie mit sich bringt.

Natürlich kann ich das auch mal ausblenden, all meine Sorgen für einen Augenblick vergessen und einfach feiern. Aber danach hat mich der Alltag ganz schnell wieder.

Weihnachten will uns sagen: Du musst vor deiner Nacht, vor den Dunkelheiten deines Lebens nicht weglaufen. Du musst sie nicht verdrängen. Du kannst dich ihnen stellen, weil mitten in deine Nacht der hereingeboren wurde, der das „wahre Licht“ ist (Joh 1,9), das „Licht der Welt“ (Joh 8,12) und von dem unser Glaubensbekenntnis als „Licht vom Licht“ spricht. Er ist in unsere Nacht des Todesschattens gekommen, damit auch über uns ein helles Licht aufleuchtet. Ja, seit Gott Mensch geworden ist, ist keine Nacht mehr so finster, dass sie nicht den Keim und die Verheißung eines neuen Lichtes, eines kommenden Tages in sich birgt. Und deshalb kann jede Nacht heilige Nacht, Weihnacht werden, weil Gott in ihr wohnt. Mit der Geburt Jesu, mit dem Kind in der Krippe, beginnt das Werk unserer Erlösung, das sich am Kreuz, das aus demselben Holz geschnitzt ist, vollendet. Hier hat Jesus die Macht des Todes gebrochen, die Nacht des Todesschattens erleuchtet. Und so wurde das Kreuz, an dem Christus gestorben ist, zur Wiege neuen Lebens.

Von Weihnachten her strahlt uns ein neues Licht auf. Von Weihnachten her erscheint alles in einem neuen Licht. Weih­nachten will uns die Angst vor dem Dunkel dieser Welt, vor unserem eigenen Dunkel nehmen. Denn von nun an geht der Immanuel, der Gott mit uns, gemeinsam durch jede Nacht, und sei sie noch so finster.

Und deshalb können wir die Nacht loben und besingen: Stille Nacht. Heilige Nacht. Ja, auch mit diesem Lied, auch wenn es für einige zu gefühlsselig und zu wenig gehaltvoll ist. Vielleicht geht dieses Lied ja deshalb vielen so zu Herzen, weil sie dabei zumindest dunkel und unbewusst erahnen, auch wenn sie es nicht benennen können, dass sie hier mit dem Geheimnis ihrer eigenen Nacht mit inbegriffen sind und weil sie damit zugleich ihrer Sehnsucht oder auch ihrem Glauben Ausdruck verleihen, dass Christ, der Retter, wirklich da ist und sie von allem Dunkel erlöst. Und dann gewinnt dieses Lied an Tiefe und kann zu einem beeindruckenden und starken Zeugnis des eigenen Glaubens werden. Und wenn wir so die Botschaft von Weihnachten immer mehr verinnerlichen und davon unser Leben verändern lassen, dann können wir auch in der dunkelsten Nacht mit den Augen des Glaubens das strahlende göttliche Licht sehen und mit den Ohren den himmlischen Lobgesang der Engel hören: Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden, und auf Erden Friede den Menschen seines Wohlgefallens.

von P. Maurus Runge OSB

Es ist die geballte Macht der Weltgeschichte, die uns da in den ersten Zeilen des heutigen Evangeliums begegnet: der Kaiser Tiberius in Rom, sein Statthalter Pontius Pilatus in Judäa, die Führer der verschiedenen Provinzen, die Hohepriester als religiöse Führer. Sie alle sind vielfältig miteinander verwoben, bestimmen über Wohl und Wehe der einfachen Leute, sagen, wo es langgeht, sitzen in den Städten, den Zentren und Schalthebeln der Macht. Sozusagen eine antike Ministerpräsidentenkonferenz.

Dann aber ein Perspektivwechsel. Aus den Städten werden wir in die Wüste geführt, und hier ereignet sich Entscheidendes: „Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias.“ Kein Herrschertitel wird genannt, kein Zentrum der Macht, dieser Johannes ist nur der unbedeutende Sohn eines einfachen Priesters im Tempel. Und doch hat Gott mit ihm Großes vor, ereignet sich an ihm und mit ihm Heilsgeschichte, Verbindung von Altem und Neuem.
Wüste, das ist zunächst einmal ein lebensfeindlicher Raum, ein Ort, wo ich um mein Überleben kämpfen muss, wo ich in die Entscheidung geführt werde, was wirklich zählt im Leben. Wüste – das ist der Ort der Dämonen, der Lebensfeinde meines eigenen Inneren, der „logismoi“, wie es die Väter nennen, der „Gedanken“, die mich hin- und herziehen, so dass ich innerlich und äußerlich keine Ruhe finde, ein Getriebener bin. Sie kennen sicher die bekannte Darstellung des hl. Antonius im Dämonenkampf auf dem Isenheimer Altar. Wüstenzeiten sind immer auch wüste Zeiten.

Wüstenzeiten – wüste Zeiten – die erleben wir auch heute, bei uns. Die Corona-Pandemie, die noch lange nicht überstanden ist, hat uns und unser Selbstverständnis, auch unser kirchliches Selbstverständnis erschüttert. Es geht um Leben und Tod, und es kommt dabei auf das Verhalten jedes Einzelnen an. In Wüstenzeiten klärt sich so einiges, da scheidet sich Richtiges vom Falschen, und Unwichtiges entlarvt sich als das, was es ist: eben nicht überlebenswichtig. Und Menschen, von denen wir meinen, dass wir sie gut kennen, offenbaren auf einmal ganz andere Seiten. Werden sich unsere Kirchen einmal als überlebenswichtig, als „systemrelevant“, erweisen? Bei so manchen innerkirchlichen Diskussionen habe ich da so meine Zweifel.

Und mitten in diese Wüstenzeit ruft uns Johannes, die „Stimme aus der Wüste“, entgegen: „Bereitet den Weg des Herrn!“ Und er verkündet „die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“. Es ist ein durch und durch adventlicher Ruf, der viel mehr mit dem eigentlichen Advent, dem Kommen Gottes in unsere Welt, zu tun hat als Lichterglanz und Glühweinduft. Umkehr – das griechische „Metanoia“ – meint keine bloß moralische Umkehr, sondern eine Kehrtwende, einen Wechsel der Perspektive, der mir zeigt, was wirklich wichtig ist. So wie Baruch in der Lesung das Volk Israel auffordert, die Perspektive zu wechseln: „Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe.“ Umkehr, die Änderung der Perspektive, hat also etwas mit Bewegung zu tun. Ich muss mich auf den Weg machen, einen manchmal anstrengenden Aufstieg hinter mich bringen. Jeder, der wie ich gerne wandert, weiß, dass so ein Aufstieg ziemlich schweißtreibend sein kann. Man kommt leicht außer Atem, muss sein Tempo anpassen, auch mal Pause machen, aufatmen. Aber wenn ich dann meinen Atemrhythmus und mein individuelles Tempo gefunden habe, dann geht es sich gleich viel einfacher. Bei Wanderexerzitien pflegen wir oft zu sagen: „Jeder geht sein Tempo!“ Wandern ist in diesem Sinne kein Marschieren im Gleichschritt, sondern ein sehr individuelles Geschehen, bei dem jede und jeder den eigenen Rhythmus finden muss. Und doch ist es bei aller Individualität wichtig, aufeinander Rücksicht zu nehmen – so ist es wichtig, dass die, die ein schnelleres Tempo gehen, bei Weggabelungen warten und dann nicht sofort wieder weitergehen, wenn alle da sind, sondern den Langsamsten der Gruppe bestimmen lassen, wann es weitergeht.

Nur so werden, wie die Verheißung am Ende unseres Evangeliums lautet, wirklich „alle Menschen das Heil Gottes schauen“, oder, um im Bild des Wanderns zu bleiben, auf dem Gipfel ankommen – jeder in seinem Tempo, aber doch in gegenseitiger Rücksicht und Hilfestellung. Vielleicht auch ein hilfreiches Bild in unserer derzeitigen gesellschaftlichen Situation.

In diesem Sinne wünsche ich uns einen Advent, in dem wir unseren je eigenen Rhythmus finden, um dem Herrn, der uns entgegenkommt, den Weg zu bereiten. Und in dem die Schnelleren auf die Langsameren warten, die Langsameren aber auch ihre Schwäche nicht ausnutzen. Nur gemeinsam kommen wir zum Ziel, auf das wir zugehen. AMEN.

von P. Marian Reke OSB

Die heutige Lesung aus dem Johannesevangelium (18,33-37) ist nicht nur – wie alle biblischen Texte in der Liturgie – ein Fragment, sondern eher ein Torso. Ein wesentliches Detail fehlt, nämlich die sprichwörtlich gewordene Pilatusfrage.

Sie erinnern sich: Als Pontius Pilatus Jesus verhört, will er zunächst nur eines wissen: „Bist du der König der Juden?“ Jesus erklärt, kein König mit weltlicher Macht zu sein. Aber damit gibt sich Pilatus nicht zufrieden und hakt nach: „Also bist du doch ein König!?“ Darauf Jesu Antwort: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ Damit nun kann Pilatus anscheinend nicht viel anfangen und stellt die berühmte Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit?!“

Dieser Satz nun hat für meine Ohren einen ganz eigenen Klang, als würde hinter ihm gleichzeitig ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen stehen. Also: Wahrheit – was soll das schon sein!? Die Reaktion des Pilatus auf die klare Selbstaussage Jesu changiert zwischen ratlos, gleichgültig, aber auch irgendwie erleichtert. Mit einem Achselzucken geht er irritiert weg. Immerhin: Die offenkundig religiöse Angelegenheit scheint ihm ohne jede politische Bedeutung zu sein – und das ist für ihn, den Repräsentanten der Macht, einzig von Belang.

In diesem kurzen Dialog spiegeln sich zwei Haltungen, die konsequent säkular eingestellte Menschen der organisierten Religion gegenüber zumeist einnehmen. Da ist zum einen die Angst vor dem Machtanspruch der Religion, eine Angst, die Pilatus fragen lässt: Bist du der König der Juden? Diese durchaus begründete Angst kleidet sich heute in die Vorsicht und Abwehr gegenüber jedwedem Fundamentalismus. Zum anderen ist da die weitverbreitete  achselzuckende oder naserümpfende Gleichgültigkeit, mit der religiöse Themen einfach abgetan werden: Was ist schon Wahrheit? Was soll das?

Angst vor Fundamentalismus oder Indifferentismus als Option – werden diese beiden Reaktionen der christlichen Botschaft gerecht? Was ist die Wahrheit, die sie bezeugen soll und will – in einer pluralistischen, multireligiösen oder areligiösen Gesellschaft?

Im Erzählverlauf des Prozesses Jesu bleibt die Frage des Pilatus nach der Wahrheit zunächst unbeantwortet im Raum stehen. Das ist auch gut so. Die Pilatusfrage, beim Wort genommen, gehört zu den Fragen, die so gut sind, dass es schade wäre, sie mit einer voreiligen oder wohlfeilen Antwort zu erledigen. Es gilt, sie offen zu halten – jedoch wie Fenster, um immer wieder hindurchzuschauen.

Zwischen den Zeilen der Passionsgeschichte gibt der Evangelist Johannes allerdings zu verstehen, wie die Antwort für ihn lautet: Die Wahrheit ist ein Mensch. Sie begegnet in dem Menschen Jesus. Und: Sie ereignet sich als Geschichte – als seine Lebensgeschichte und als die Lebensgeschichten aller, die ihm begegnen.

Davon ist in einer anderen bekannten Selbstaussage Jesu die Rede:  „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Viele sehen darin den Absolutheitsanspruch des Christentums begründet. Jahrhundertelang wurde dieses Jesuswort zu Machtzwecken missbraucht. Aus der Verheißung, an der Wahrheit teilzuhaben, wurde die Behauptung, sie selbst zu haben und das ausschließlich.

Doch die Wahrheit bleibt unverfügbar – vielgestaltig und vielschichtig, wie sie erscheint: im Menschen und in der gesamten Schöpfung. Es gilt, sie im je eigenen Leben wahrzunehmen und zu bezeugen. Dazu ist ein jeder und eine jede von uns geboren und in die Welt gekommen. Das ist der Weg – und das sollte der Weg der Kirche sein, von dem Papst Johannes Paul II. zu Beginn seines Pontifikats gesagt hat: „Der Weg der Kirche ist der Mensch.“ Mich hat das damals stark beeindruckt.

Um im Sinne dieses Papstvotums heute am Christkönigsfest eine besondere Facette der Wahrheit des Menschen hervorzuheben, möchte ich einen schönen Gedanken Martin Bubers zitieren, den er der Tradition des Chassidismus verdankt: „Es gibt nur eine wirkliche Sünde, nämlich zu vergessen, dass jeder Mensch ein Königskind ist.“

Wenn es um Könige oder Königinnen geht, ist manchmal auch die Rede von gekrönten Häuptern. Wer eine Krone trägt, geht wie von selbst aufrecht, sonst könnte die Krone zu Boden fallen. Die Krone verhilft also zum aufrechten Gang, in dem sich die Wahrheit des Menschen offenbart und der ein Zeichen der Würde des Menschen ist. Die Würde des Menschen ist eine königliche und sie ist sein Geburtsrecht, denn jeder Mensch ist zum aufrechten Gang geschaffen. Der aber meint nicht unversehrtes Leben, sondern eine innere Haltung. Zur Wahrheit des Menschen gehört auch seine Wunde.

In diesem Zusammenhang ist noch bemerkenswert, dass man mit Krone nicht nur das äußere Machtsymbol bezeichnet, sondern auch den Scheitelpunkt der Schädeldecke, so dass jeder Mensch – ob äußerlich gekrönt oder nicht – eine Krone trägt.

Zu den Weisheitsüberlieferungen der Menschheit gehört weiterhin die Vorstellung, durch die leibhaftige Krone komme am Lebensbeginn die Seele in den Körper des Menschen und verlasse ihn dort auch wieder im Tod. Deshalb bildet in der Leibsymbolik das Kronenchakra, wie man es nennt, die Verbindung des Menschen nach oben – zum Himmel, unserer ursprünglichen Heimat. In dieser Zugehörigkeit gründet die Menschenwürde. Wer das erkennt, dem geht buchstäblich ein Licht auf, an das er sich halten kann – als aufrichtende, ausrichtende Lebensorientierung.

Letztlich ist es diese erleuchtete Erkenntnis, die den Menschen krönt, und diese Krone fällt nicht, wenn er sein Haupt demütig neigt, um im Mitmenschen die Würde zu ehren, die auch seine eigene ist. So neigten sich die Magier vor dem Kind im Stall und offenbarten dadurch dessen königliche Würde, ohne ihre eigene zu verlieren.

Eins ist mir noch wichtig, was ich mir selbst immer wieder hinter die Ohren schreiben muss: In den Klageliedern des Jeremia wird in prophetischem Realismus von der bedrohten Krone gesungen. „Dahin ist unseres Herzens Freude, in Trauer gewandelt unser Reigen. Zu Boden rollte unseres Hauptes Krone. Wehe, wehe wir sind Sünder. Unser Herz ist krank und darum voll Traurigkeit. Dunkel sind unsere Augen.“  Wenn die Kronen unserer müden, manchmal gedeckelten oder ängstlich verwirrten Häupter zu Boden rollen, lasst sie uns nicht auch noch gegeneinander in den Schmutz treten. Lasst sie uns vielmehr gegenseitig aufheben und füreinander hüten. Allesamt sind wir doch Königskinder, gottgewollte Menschen …