Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! (Joh 20,27)
Jesus lädt Thomas ein, seine Wunden zu berühren. Er lädt den ein, der an das Unglaubliche nicht glauben kann, weil es jeder menschlichen Erfahrung widerspricht, ihn zu berühren. Jesus lässt sich berühren.
In Coronazeiten bekommt dieses Evangelium der Begegnung des Auferstandenen mit dem Apostel Thomas eine ganz neue Sinnspitze. Undenkbar, dass in diesen Tagen jemand einen Mitmenschen dazu einlädt, ihn zu berühren. In Zeiten des Social Distancing ist körperliche Berührung gefährlich geworden, weil sie den Mindestabstand nicht einhält und die Gefahr einer Infektion vergrößert. „Distanz ist die neue Form von Zuneigung“, so hat es unsere Bundeskanzlerin am Beginn der Pandemie formuliert. Und sie hat zweifelsohne recht. Menschen, die mir etwas bedeuten und die ich schützen will, zu denen sollte ich in diesen Tagen auf Abstand gehen – so paradox das auch klingt und so schmerzhaft das sein mag. Zum Glück gibt es noch andere Wege der Berührung.
So spricht die Einladung Jesu an Thomas, seine Wunden zu berühren, vielleicht eine zutiefst menschliche Sehnsucht in uns an: die Sehnsucht nach Berührung, die Sehnsucht, umarmt zu werden und einem lieben Menschen auch körperlich nahe zu sein. Und vielleicht tröstet es uns, dass im Fortgang des Evangeliums von einer Berührung Jesu durch Thomas nicht die Rede ist, dass Thomas sein Glaubensbekenntnis – „Mein Herr und mein Gott“ – spricht, auch ohne Jesus körperlich zu berühren.
Es ist das Wesen menschlicher Sehnsucht, dass sie hier auf Erden unerfüllt bleibt. Und wenn sie – ansatzweise – Erfüllung findet, dann oft nur, um wieder neu, größer, anders aufzubrechen. Der Mensch ist das Wesen der Sehnsucht. „Alles beginnt mit der Sehnsucht“, schreibt die Dichterin Nelly Sachs. Vielleicht kann uns gerade das Unerfüllbare menschlicher Sehnsucht dazu antreiben, kreativ zu werden, Wege zu finden, die Distanz zwischen uns zu überwinden, Menschen nahe zu sein, auch wenn körperliche Nähe gerade nicht geboten ist. So ist das Evangelium gerade in unsere Zeit hinein geschrieben, für uns Jüngerinnen und Jünger „zweiter Hand“, die Jesus nicht mehr physisch berühren können, aber dennoch in seine Nähe eingeladen sind, damit auch wir einmal mit Thomas sagen können: „Mein Herr und mein Gott!“
P. Maurus Runge OSB