Predigt am 30. Sonntag im Jahreskreis (29.10.2023)

Ich will, dass du bist.
Predigt am 30. Sonntag im Jahreskreis (A) zu Ex 22, 20 -26 und Mt 22,34-40

von P. Klaus-Ludger Söbbeler OSB

I.
Das Judentum kennt das Fest „Simchat Tora“ – das Fest der Gesetzesfreude[1]. Die Buchrollen mit dem Gesetz Gottes, der Tora werden in feierlicher Prozession, mit Musik und Tanz durch die Synagoge getragen; für die Kinder gibt es, ähnlich wie bei uns an Nikolaus, Süßigkeiten und kleine Geschenke.
Aus Freude über Gesetze und Gebote ein Fest feiern? Spätestens wenn die Steuererklärung fällig ist oder das Knöllchen für falsches Parken zu bezahlen ist, wird sich jeder von uns kopfschüttelnd abwenden.

Trotzdem lohnt es sich, ein paar Augenblicke bei dieser uns recht fremden Sicht zu verweilen. Gesetz und Gebot sind ganz fest mit der Kerngeschichte des Judentums verbunden, der Erzählung von der Befreiung der Israeliten aus der Knechtschaft des Pharao, dem mühsamen Zug durch die Wüste und der Ankunft im „gelobten Land“. In diesem Zusammenhang bringt Mose dem Volk die Tafeln mit den Zehn Geboten, die er von Gott empfangen hat. Die Menschen erkennen: Dieses Gesetz ist Hilfe, nicht Zwang. Das Gesetz Gottes dient nicht dazu, einem Pharao oder sonstigen Gewaltherrscher Macht und Reichtum zu sichern. Sein Zweck ist es vielmehr, den Menschen zu ermöglichen, so befreit und erlöst zu bleiben, wie sie waren, als sie die ägyptische Sklaverei, die Truppen des Pharao und das Rote Meer hinter sich hatten, – und unter den Füßen die Wüste, in der es galt, Etappe um Etappe voranzukommen in das Land, das „von Milch und Honig“ fließt. Erlöste Menschen, die wissen wo es lang geht, auch wenn der Weg mühsam und unübersichtlich wird, hat Gott vor Augen, wenn er „Gesetzgeber“ ist. In genau dieser Tradition sahen sich übrigens auch die Väter des Mönchtums wie der heilige Benedikt, als sie ihre Klosterregeln schrieben.

Einer meiner Schüler kam vor diesem Hintergrund auf die Formulierung „Die Zehn Gebote sind das Navigationssystem Gottes“. Ich finde, die in diesem Vergleich steckende Analogie mit der beharrlichen Stimme, die dem Autofahrer sagt, wo er herfahren muss, trifft ziemlich genau. Mit dem Fest „Simchat Tora“ bringt das Judentum diese Sichtweise auf das göttliche Gesetz zum Leuchten: Gott lässt uns nicht im Stich, wenn es kritisch wird, wenn sich das Leben anfühlt wie ein Wüstenzug, in dem uns verloren zu gehen droht, dass wir erlöste und befreite Menschen sind. Die biblischen Gebote – ein Beispiel haben wir gerade in der ersten Lesung gehört – meinen: Mensch, erhalte dir und deinen Nächsten den Zustand, befreit und erlöst zu sein, – damit du dich nicht auf einmal in der Versklavung und Unfreiheit wiederfindest, in die du zwischendurch hineingeraten warst:

II.
Mit seinen Geboten zeigt Gott den Menschen:
Du bist einer, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, aber mit dem Scheitel an den Himmel rührt.
Du bist eine, die sich unter Wert verkauft, wenn sie Gott und dem Nächsten die Liebe verweigert.
Du bist einer, der zu klein von sich denkt, wenn er verdrängt, dass er mehr ist, als die Erde ihm geben kann.
Kurz: Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe erinnert mich daran, wer ich eigentlich bin: Der Gottesliebe bedürftig, zur Menschenliebe begabt.

III.
Vom heiligen Augustinus stammt die markante Formulierung: Wer liebt, der sagt: Ich will, dass Du bist. Wie erlösend und motivierend dieser Satz wirkt, wenn er mir aufrichtig und glaubwürdig gesagt wird, hat hoffentlich jede und jeder irgendwann erlebt. Nichts ist aufbauender, als wenn mir jemand zu wissen und vor allem zu spüren gibt: Ich will, dass du bist, dass es dich gibt.

Das Gegenteil von Liebe wäre dann: Ich will, dass Du so wirst, wie ich meine, dass du sein müsstest. Menschliches Miteinander wird zur Hölle, wo Menschen andere Menschen zwingen, so zu sein, wie sie selber sind. Kein Mensch kann es bei sich selbst aushalten, wenn er meint er müsse ein anderer sein, als er ist.

Nichts und niemand kann sein und leben, wenn es nicht diesen Satz gäbe: Ich will, dass du bist. Deshalb ist die Liebe das wichtigste Gebot: An der Gottes- und Nächstenliebe entscheidet sich, ob das Leben oder der Tod die Oberhand bekommt.

IV.
Obwohl von seinem ausdrücklichen Selbstverständnis her nicht religiös, war es dem Dichter Max Frisch gegeben, in Wort und Gleichnis zu veranschaulichen, worauf es in der Begegnung mit diesem tiefsten Grund unseres Lebens ankommt: Auf das Hineinwachsen in Gottes bedingungslose Liebe, die immer weiter und tiefer ist als alle Konstruktionen, die der Kopf des Menschen produziert.

Er schreibt in seinen Tagebüchern:
„Es ist bemerkenswert, dass wir von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Mal. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der, den man liebt.“[2] 

Das ist es, woran uns Gottes Gebot Augenblick für Augenblick erinnert und weswegen es eigentlich Augenblick für Augenblick ein Freudenfest wert ist:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
 

[1] Nach der Predigt wurde ich auf einen schrecklichen Zusammenhang aufmerksam gemacht, der mir bei der Vorbereitung entgangen war:  In diesem Jahr ist das Fest Simchat Tora von der Terrororganisation Hamas ausgenutzt worden, um Israel zu überfallen, viele Menschen zu ermorden und Israelis und Palästinenser in den Krieg zu zwingen.

[2] Max Frisch, Tagebuch 1946 – 1949, Frankfurt 1978, 31