Predigt am Zweiten Ostersonntag (16.4.2023)

von P. Erasmus Kulke OSB

Liebe Schwestern und Brüder, bei dem Stichwort „Quasimodo“ denken vermutlich viele von Ihnen an den Glöckner von Notre Dame. Vermutlich denken Sie an die erfolgreiche Verfilmung des berühmten Romans von Victor Hugo mit Anthony Quinn in der Rolle des buckligen und völlig entstellten Glöckners – an der Seite von Gina Lollobrigida als schöne und verführerische Esmeralda. Seinen Namen verdankt der Glöckner dem Tag, an dem er als Findelkind vor der Kathedrale Notre Dame in Paris gefunden wurde: dem Sonntag Quasimodo. Damit ist der Sonn­tag nach Ostern gemeint, der nach seinem Introitus, also nach dem Eingangsgesang der Messe dieses Tages, benannt ist. Der beginnt mit den Worten „Quasi modo geniti infantes“. Auf Deutsch: „Gleichsam wie neugeborene Kinder“. Wir haben ihn zu Beginn der Messe gesungen. Der Sonntag Quasimodo ist also heute. Wir nennen ihn auch Weißen Sonntag.

Wenn man in die Zeit der frühen Kirche zurückgeht, erklärt sich, warum der heutige Sonntag „Weißer Sonntag“ heißt und warum wir genau diesen Introitus singen: Damals war der zentrale Termin für die Taufe die Osternacht. In einem zumeist dreijährigen sogenannten Katechumenat bereiteten sich die Taufbewerber auf die Taufe vor und wurden in den Glauben eingeführt. An der Heiligen Messe durften sie in dieser Zeit noch nicht teilnehmen. Da sie eben „heilig“ war, wollte man sie vor Nicht-Gläubigen schützen und gestattete nur Getauf­ten die Teilnahme an der Messe. Die Einführung in die Eucha­ristiefeier und die theologisch-spirituelle Bedeutung ihrer Riten geschah also erst nach der Taufe, insbesondere in der Woche nach Ostern, und zwar während der Messe selbst. Ver­mutlich im 7. Jahrhundert entstand dann der Brauch, dass die Neugetauften zu den Messen an den Tagen der Osteroktav ihre weißen Taufgewänder anzogen und sie dann am Sonntag nach Ostern wieder ablegten. Daher also der Name „Weißer Sonn­tag“.

Der Introitus wiederum hat genau diese Neugetauften im Blick: Der Text lautet in deutscher Übersetzung: „Gleichsam wie neugeborene Kinder, vernünftig, ohne Hinterlist, verlangt nach Milch.“ Die Worte stammen aus dem 1. Petrusbrief (2,2) und machen bildhaft deutlich, dass die Neugetauften im Glau­ben weiter genährt werden müssen, damit sie im Glauben wachsen, so wie Säuglinge die Muttermilch für ein gesundes Wachstum brauchen. Aus dem Kontext des 1. Petrusbriefs geht hervor, was mit dieser „vernünftigen und unverfälschten Milch“, wie es dort wörtlich heißt, gemeint ist: nämlich das Wort Gottes, das lebt und bleibt (1,23). Das ist die Nahrung, die unseren Glauben wachsen lässt. Deshalb müssen wir dieses Wort immer wieder verkosten, betrachten, meditieren, wenn wir im Glauben wachsen wollen. Nach diesem Wort sollen wir verlangen, wie Säuglinge, die nach der Muttermilch schreien und nicht eher still werden, bis sie gestillt werden. Ja, wir sollen uns sehnen nach dem lebendigen Wort. Auch diese Be­deutung steckt in dem Verb des griechischen Urtexts, das hier mit „verlangen“ übersetzt wird. Denn die Sehnsucht treibt uns an, uns immer wieder nach diesem Wort auszustrecken, nach dem Wort, das in Christus Fleisch geworden ist, ja das Christus selbst ist. Und jetzt mal Hand aufs Herz, liebe Schwestern, liebe Brüder: Wie sieht es mit Ihrer Sehnsucht nach Gott und seinem Wort aus? Wie oft nähren Sie ihren Glauben damit?

Ich habe den Eindruck, dass viele Christen gar nicht nach die­sem Wort verlangen, gar keine Sehnsucht mehr nach Christus in sich spüren und dem entsprechend im Glauben nicht wach­sen, nicht erwachsen geworden sind. Das ist vielleicht ähnlich wie in der Gemeinde von Korinth, denen Paulus in seinem ers­ten Brief schreibt: „Vor euch, Brüder und Schwestern, konnte ich aber nicht wie vor Geisterfüllten reden; ihr wart noch ir­disch eingestellt, unmündige Kinder in Christus. Milch gab ich euch zu trinken statt fester Speise; denn diese konntet ihr noch nicht vertragen. Ihr könnt es aber auch jetzt noch nicht; denn ihr seid immer noch irdisch eingestellt.“ (1Kor 3,1-3)

Und deshalb macht es meines Erachtens auch nur begrenzt Sinn, wenn wir in Deutschland auf dem Synodalen Weg über kirchliche Strukturen diskutieren. Ich sage nicht, dass das un­wichtig ist oder dass sie nicht reformbedürftig sind, aber was nützen uns neue Strukturen, wenn das Fundament fehlt oder brüchig ist? Das ist doch der Grund, warum so manches in unserer Kirche „schief“ ist. Und mit Fundament meine ich einen erwachsenen Glauben! Und das ist nichts Äußerliches, kein starres Befolgen von Regeln und Riten, keine Ideologie, keine bloße Weltanschauung, kein „Ich glaube an Gott“, sondern ein „Ich glaube Dir, Gott“, also eine tiefe Gottes­beziehung, aus der heraus ich lebe und meine Leben gestalte, die mir Kraft, Hoffnung, Sinn und Orientierung gibt. Eine Christusbeziehung, die ausstrahlt und mich zu einem überzeu­genden Boten des Evangeliums macht. Das vermisse ich oft in unserer Kirche, auch bei vielen Hauptamtlichen – bis hinauf zu den Bischöfen und Kardinälen. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum immer weniger Menschen zu uns in die Kirche kommen, warum viele Menschen, die auf der Suche sind, die in eine Sinnkrise geraten, gar nicht erst auf die Idee kommen, bei uns Christen nachzufragen und nach Antworten zu suchen. Sicher spielen hierbei auch die Missbrauchsfälle und verkrustete, völlig veraltete kirchliche Strukturen eine Rolle. Aber vor allem liegt es aus meiner Sicht daran, dass wir es nicht schaffen, die frohe Botschaft überzeugend weiterzu­geben, so dass sie die Menschen unserer Zeit erreicht, weil wir oft selbst die Botschaft nicht wirklich verinnerlicht haben und daraus leben, weil wir die Sehnsucht nach dem Wort Gottes mit anderen, vergänglichen Dingen versuchen zu stillen oder auch sie zu betäuben.

Der heutige Sonntag, der in besonderer Weise die Neugetauf­ten im Blick hat, kann uns, die vermeintlich „alten Hasen“, ermutigen, uns wieder zurückzubesinnen auf unsere eigenen Glaubensanfänge, auf frühere Gotteserfahrungen, die uns be­wegt oder angerührt haben, damit unsere Sehnsucht nach Gott wieder neu entfacht wird. Uns allen hat er eine Sehnsucht nach ihm ins Herz gelegt. Die ist vielleicht im Laufe der Zeit ein wenig heruntergebrannt und glimmt nur noch. Denn wer im Glauben voranschreitet, macht immer wieder auch die Er­fahrung, dass Gott sich seinem Gespür entzieht. Der macht Erfahrungen geistlicher Trockenheit oder – wie Johannes vom Kreuz, ein großer Mystiker im 16 Jahrhundert, es nennt – Er­fahrungen der „dunklen Nacht des Glaubens“. Und das lässt die Sehnsucht nach Gott schon mal erlahmen. Doch Johannes vom Kreuz sieht hierin Gott als Pädagogen am Werk, der uns immer wieder zu geistlichem Wachstum anregen will und her­ausfordert. Auch er benutzt das Bild des Säuglings, um es an­schaulich zu machen. Er schreibt: „Wenn sich ein Mensch mit Entschiedenheit dem Leben mit Gott zuwendet, pflegt Gott ihn zumeist geistlich zu umsorgen wie eine liebende Mutter ihr neugeborenes Kind: Sie wärmt es an ihrer Brust, nährt es mit ihrer süßen Milch, trägt es auf den Armen und herzt es. In dem Maße aber, wie es heranwächst, entzieht ihm die Mutter solcher Art Zärtlichkeiten, sie bestreicht die bisher süße Brust mit Bitterem, lässt es von den Armen herab, damit es auf eigenen Füßen stehen lerne, die Art des Säuglings ab­lege und nach kernigerer Nahrung verlange. Nicht anders ver­hält sich die Gnade Gottes, diese liebende Mutter, sobald ein Mensch zu neuem Leben in Gott wiedergeboren wird.“

Doch nicht nur heute, auch zu Lebzeiten des Johannes sind viele im Glauben nicht gewachsen, sondern Kinder geblieben. Er schreibt: „Es ist beklagenswert, so viele Menschen sehen zu müssen, denen Gott alle Gaben und Gnaden verleiht, um vo­ranzukommen, und würden sie Mut fassen, so könnten sie es. Sie aber bleiben bei ihrer niedrigen Art mit Gott umzugehen, weil sie es nicht anders wollen oder wissen oder niemand da ist, der sie aus den Kinderschuhen der Frömmigkeit heraus­führen könnte. Beschenkt sie unser Herr schließlich doch so reich, dass sie dennoch vorankommen, so gelangen sie doch wesentlich später, mühseliger … ans Ziel, weil sie sich Gott nicht überlassen haben. … Sie sind wie kleine Kinder: wenn ihre Mütter sie auf den Arm nehmen möchten, strampeln und schreien sie, weil sie unbedingt selber laufen wollen, obwohl sie es doch nicht können und wenn, dann nur mit Kleinkind-Schritten.“

Der heutige Sonntag lädt uns ein, im Glauben voranzu­schreiten, zu wachsen, der Sehnsucht nach Gott wieder mehr Raum in unserem Leben, in unserem Herzen zu geben. Lassen wir sie von Gott wieder neu entfachen. Sein Wort will uns dabei Nahrung sein. Nehmen wir es immer wieder zu uns, ver­tiefen wir uns darin, „kauen“ wir es. Manchmal muss man län­ger kauen, wie beim Schwarzbrot, bis es seinen vollen Ge­schmack preisgibt. Nur Gott vermag unsere Sehnsucht wahr­haft zu stillen. Er selbst hat eine unendliche Sehnsucht nach uns und wartet nur darauf, dass wir uns ihm zuwenden. Oder noch einmal mit Johannes vom Kreuz: „Vor allem muss man wissen: Wenn der Mensch Gott sucht– viel früher schon sucht Gott den Menschen.“