Predigt am Dritten Adventssonntag „Gaudete“ (17.12.2023)
von P. Marian Reke OSB
Aus einer unbegrenzbaren kosmischen Dunkelwolke schimmert schwach ein einziger Stern; das muss uns genug sein; mehr ist nicht geoffenbart. – Reinhold Schneider im „Winter in Wien“
Meine Schwestern, meine Brüder – es ist bemerkenswert und keineswegs selbstverständlich, dass wir Menschen sind. Ein Liedermacher aus meinen jungen Jahren sang mit Recht: Was wir sind, sind wir nur, wenn wir es auch werden.
Menschwerdung! Das Stichwort dieser adventlich-weihnachtlichen Tage klagt Jahr für Jahr die entscheidende Notwendigkeit ein: dass die Menschen auf dieser Erde endlich für sich und für einander Mensch werden.
Konstantin Wecker, der Liedermacher, hatte vermutlich seine liebe Not damit. Immer wieder stand damals sein Name in den Schlagzeilen: eine aus gutbürgerlicher Sicht nicht gerade rühmenswerten Künstlerkarriere. Inzwischen hat sich das Blatt der öffentlichen Meinung gewendet. Ich habe ihn schon damals geschätzt.
Kürzlich blätterte ich abends wieder einmal in einem seiner frühen Bücher. Der Titel lautet: „Und die Seele nach außen kehren.“ Da sprangen mir wie neu einige Sätze ins Auge, Worte, die ich längst kannte, aber vergessen hatte. Sie passen zum Stichwort Menschwerdung und lauten: In einer Gesellschaft der Starken / wird es einem nun mal schwer gemacht / sein Irren und Taumeln / sein Schwanken und Schwachsein / unverschämt zu zeigen.
Das trifft mitten ins Schwarze, in den wunden Punkt unseres Miteinanders – in Familie und Partnerschaft, in Gesellschaft und Kirche, auch im Kloster. Immer und überall muss man stark sein, meint wenigstens, es sein zu müssen. Oft muss man so tun „als ob“. Wer aber dabei nicht mitkommt und das nicht „unverschämt zu zeigen“ weiß, verzieht sich aus lauter Scham – vielleicht ins dichte Gestrüpp einer Sucht wie seinerzeit Konstantin Wecker oder hinter wohlanständige, aber hohle Fassaden …
Nur: Menschlichkeit beweist man zuerst mal durch die Hingabe seiner ganzen fehlerhaften Persönlichkeit an seine Mitmenschen.
Auch das ist ein Wort des Liedermachers, das mir unter die Haut gegangen ist, als ich es las. Nach diesen wenigen Sätzen habe ich an jenem Abend das Buch geschlossen und die Lampe gelöscht. Ich erinnere mich genau. Durch das offene Fenster leuchtete ein Stern am Himmel. Er stand hell und klar im dunklen Fensterrahmen. Ein tröstendes Bild. Es ließ mich noch an ein weiteres Wecker-Wort denken, das mich zunächst in den Schlaf begleitet und dann am andern Morgen geweckt hat: Dies nur kann uns nach Hause führen: / Liebe und eines Größeren Barmherzigkeit.
Da kündigte sich schon die Kehre an, die Konstantin Wecker später zu einem beachtlichen spirituellen Autor werden ließ.
Der Stern – ein tröstendes Bild! Ein Bild, das aufrichten und Richtung geben kann. Eine weihnachtliche Orientierung! Darum geht es ja: den Orient des eigenen Lebens zu sichten, den Punkt also, an dem uns wie den drei königlichen Weisen ein Licht aufgeht – über Gott und Mensch. Das Licht der Welt! Von ihm spricht auch das heutige Sonntagsevangelium (vgl. Joh 1,6-8) für das Johannes der Täufer Zeugnis ablegt.
Der Stern – eine weihnachtliche Orientierung! Der erste Akzent bedeutet: Wir müssen das Dunkel unseres Lebens nicht fliehen, wir können, wir sollten darin aushalten. Nur wenn wir unsere inneren Nächte nicht künstlich zum Tag machen oder sonst wie umbiegen, kann uns überhaupt eine Weihnacht geschenkt werden. Der zweite Akzent deutet hin auf den Segen, dass uns der Sinn des Lebens einleuchtet wie eine Lichtspur, an die wir uns halten dürfen – auf den Wegen unserer Menschwerdung, die auch Wirrwarr-Strecken kennen.
Käme es da nicht auf eine adventlich-weihnachtliche Sorge um den Menschen an, die wir einander schulden? Dass wir einem in Verwirrung geratenen Menschen nicht mit klugen Ratschlägen zu helfen versuchen, sondern ihm achtsam und einfühlend, in einer eher fragenden als wissenden Haltung zur Seite stehen und gehen, damit er seiner eigenen Lebenslinie wieder trauen lernt. So könnte ihm ein Licht über sich selbst aufgehen – wie ein Stern, an den er sich halten kann und soll. Wer aber auf solche Weise einem anderen Menschen helfen will, müsste der sich nicht auch selbst auf seinen eigenen Stern verlassen? Ein guter Helfer, eine gute Helferin ist erfahrungsgemäß, wer am schwindenden Stern des eigenen Lebens gelitten und ihn in großer Sorge gesucht und wieder gefunden hat.
Uns allen soll ein Licht aufgehen: dass ein jeder, eine jede von Gott gutgeheißen ist. Sonst gäbe es uns nicht. Allein aus diesem Grund sind wir da. Wir verdanken uns dem Ja Gottes, seinem schöpferischen und erlösenden Ja. Daran erinnert uns der Stern und will unsere Sehnsucht wieder wecken, ganz in dieser Gewissheit leben zu können.
Wie bekommt mein Leben Glanz? Das ist die oft verschämte Frage vieler Menschen. Manche meinen, sie müssten deshalb etwas Glänzendes zustande bringen. Aber das zählt nichts gegen das eine: geliebt zu werden und zu lieben. Das ist der Glanz des Lebens – unser je eigener und gemeinsamer Stern der Menschwerdung.
Nüchtern formuliert heißt das: unter uns immer wieder neu dem gegenseitigen Ja zueinander Raum zu geben und eine konkrete Gestalt – auch und gerade, wenn es gilt, untereinander den schwierigen Umgang mit dem Nein zu lernen, wodurch das Ja Kontur bekommt. Das Zeugnis Johannes des Täufers äußert sich, wie wir im Evangelium gehört haben, zunächst durch ein mehrfaches Nein. Das jedoch steht im Dienst des größeren Ja und darauf kommt es an (vgl. Joh 1,19-28).
Dom Helder Camara, der nach einer Umkehr befreiungstheologisch orientierte Erzbischof aus Lateinamerika, hat uns in seinen „Mitternächtlichen Meditationen“ aus der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils ein wunderbares Gebet der Orientierung hinterlassen:
Herr, lehre mich, ein Nein zu sagen, das den Geschmack des Ja hat, und niemals ein Ja, das den Geschmack des Nein hat.