Predigt am 2. Ostersonntag (24.04.2022)
von P. Maurus Runge OSB
Liebe Schwestern und Brüder!
Vor knapp zwei Wochen, mitten in der Karwoche, fand ein großes „Live-Event“ auf dem Burgplatz in Essen vor der Kulisse des Essener Domes statt, das ein großer privater Fernsehsender ausgerichtet hat. Es wurde mit vielen mehr oder weniger bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, mit Einspielern und Livemusik und Thomas Gottschalk als Erzähler eine Geschichte aufgeführt, die viele Menschen berührt, ja zu Tränen gerührt hat. Das Event trug den Namen „Die Passion – die größte Geschichte aller Zeiten“ – und es handelte sich tatsächlich um die Passionsgeschichte von Jesus Christus, die wir in derselben Woche in den Kirchen gehört haben. Die Worte waren wörtlich den Evangelien entnommen, die Geschichte selber ist so übersetzt worden, als geschehe sie in der Gegenwart mitten in der säkularen Großstadt Essen. So fand das Messiasbekenntnis des Petrus im größten Essener Einkaufszentrum statt, die Lebensmittel für das Letzte Abendmahl wurden an einer Imbissbude gekauft, und die Ölbergszene wurde auf das Gelände der Zeche Zollverein verlagert. Manches daran war für christliche Augen sicherlich zunächst verstörend, doch ich finde, dass gerade in solcher Verstörung und Irritation auch etwas Heilsames liegen kann – denn haben wir uns nicht so sehr an die Passionsgeschichte gewöhnt, dass wir gar nicht mehr das Herausfordernde, Provozierende, Berührbare daran erleben? Da hilft so manche Störung, neu auf die zeitlos aktuelle Botschaft dieser Story hinzuhören. Das moderne Passionsspiel, das übrigens völlig auf brutale Bilder der Kreuzigung verzichtete, wurde immer wieder durch deutsche Popsongs unterbrochen, moderne Passionslieder sozusagen, deren Text erstaunlich gut zur Geschichte passten. Parallel zur Geschichte, die auf dem Burgplatz erzählt wurde, trugen ganz unterschiedliche Menschen in einer Prozession ein großes Lichtkreuz durch die Essener Innenstadt und berichteten dabei von ihren Erfahrungen und Lebensschicksalen – berührende Glaubenszeugnisse, die vielleicht nicht immer klassische Kirchenbiographien waren, aber nicht weniger authentisch und echt.
Mich hat dieses moderne Passionsspiel seltsam berührt. Es hat mich nachdenklich gemacht, dass ein Privatsender, der sonst nicht unbedingt für christliche Botschaften bekannt ist, etwas schafft, wozu wir in unseren Kirchen immer weniger in der Lage zu sein scheinen: viele Menschen zusammenzubringen, die innerlich angerührt, ja auch ehrfürchtig, an dieser Geschichte teilnehmen – und vielleicht sogar am Ende verändert zurück in ihren Alltag gehen; am Ende stand der Appell zu Solidarität und Nächstenliebe, auch im Angesicht der vielen modernen Passionsgeschichten von Menschen heute, in der Ukraine, Russland, im Heiligen Land und anderswo.
Als Leitmotiv über dieser Veranstaltung stand ein Satz, der einem Lied der Gruppe Revolverheld entnommen ist, das am Ende der Jesus-Darsteller über den Dächern der Stadt Essen gesungen hat: „Halt dich an mir fest, wenn dein Leben dich zerreißt. Halt dich an mir fest, wenn du nicht mehr weiterweißt. Halt dich an mir fest, weil das alles ist, was bleibt.“
Was hat das nun alles mit dem heutigen Oktavtag von Ostern zu tun und mit dem Evangelium der Begegnung des Auferstandenen mit Thomas, das wir gerade gehört haben?
Wir stehen am Ende der Osteroktav. Morgen geht nach den Osterferien für viele von uns das Alltagsleben weiter. Die Frage, die über diesem Tag steht, lautet: Was bleibt? Was bleibt von der Feier der Kar- und Ostertage der letzten Wochen, von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi? Was bleibt von der österlichen Hoffnungsbotschaft in einer Zeit, die ganz und gar nicht zur Hoffnung einlädt? Was bleibt, „wenn das Leben uns zerreißt und wenn wir nicht mehr weiterwissen“?
An diesem Übergang begegnet uns der Apostel Thomas. Er war bei der ersten Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus nicht dabei. Er weigert sich zu glauben, wenn er nicht die Wunden berühren kann, wenn er es nicht mit allen Sinnen fühlen kann, wenn er sich ganz wörtlich an den Wunden Jesu festhalten kann. Und Jesus geht auf seinen Wunsch ein. Er sagt zu ihm: „Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite! Halt dich an mir fest, weil das alles ist, was bleibt!“
„Berühre die Wunden!“ So lautet ein Buchtitel des tschechischen Priesters und Theologen Tomás Halík. Jesus ist nicht als strahlender Sieger auferstanden – auch wenn wir ihn gerne so besingen. Er ist mit seinen Wundmalen auferstanden. Und er lädt uns ein, seine Wunden zu berühren, uns berühren zu lassen von seinen Wundmalen, die uns in den Wunden unserer Welt und der vielen Menschen in ihr entgegenkommen. „Lass dich berühren von meiner Passion, wo auch immer sie erlebt und durchlitten wird – innerhalb und außerhalb unserer Kirchen, auf den Schlachtfeldern der Welt, in den großen und kleinen menschlichen Dramen von Schuld, Verrat, Verleugnung, Gewalt.“
Unsere Osterkerze bringt in diesem Jahr diese Botschaft eindrücklich ins Bild. An der Stelle der fünf klassischen Wundmale finden sich Friedenstauben, Boten des Friedens. Sie scheinen aus diesen Wundmalen hervorzufliegen, um den Frieden, den der Auferstandene seinen Jüngern zuspricht, in die Welt hinaus zu tragen: „Friede sei mit euch!“ Kein triumphaler Frieden, sondern ein verwundeter Friede, der sich nicht an den Wunden der Menschen vorbei, sondern durch diese Wunden hindurch seinen Weg bahnt. Das ist die Hoffnungsbotschaft von Ostern, die bleibt und die wir auch weiter verkünden müssen – als Protest gegen die Diktatoren dieser Welt! AMEN.