Predigt an Allerseelen (2.11.2025)

von P. Marian Reke OSB

An den gewöhnlichen Sonntagen im Jahreskreis sind die Lesungen aus der Bibel festgelegt. Heute – an Allerseelen – stehen verschiedene biblische Texte zur Auswahl. Wir haben sie soeben gehört: die Lesung aus dem Philipperbrief und eine Passage aus den Abschiedsreden des Johannesevangeliums. Sie umkreisen die menschliche Grunderfahrung, die am heutigen Gedenktag im Mittelpunkt steht und von der wir nachher auf dem Friedhof mit einem alten Hymnus singen: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“. So ist es. Unser Schicksal und unsere kreatürliche Not ist die Vergänglichkeit. Doch können und sollen wir diese unvermeidliche Erfahrung durch Momente des Innehaltens unterbrechen –

Wir könnten und sollten uns bewusst, mit Herz und Verstand, noch einmal dem Fest, das wir gestern begangen haben, zuwenden und uns der Botschaft von Allerheiligen öffnen: „Unsere Heimat ist im Himmel“.

Zwar sind wir gewohnt, diesen Satz ausschließlich im Blick auf das Wohin unseres Lebens zu verstehen, im Blick auf den Tod also und das Danach. Es geht in diesem umfassenden Satz aber auch um unser Woher, denn unter Heimat verstehen wir zuerst unser Woher.

Woher also kommen wir, woher komme ich – ursprünglich?

Nach unserer an der Botschaft Jesu orientierten Überzeugung dürfen wir davon ausgehen, dass jeder Mensch – ob als gewolltes oder ungewolltes Kind – aus dem schöpferischen Ja der Liebe stammt. Von er Liebe aber schreibt geradezu dogmatisch der Erste Johannesbrief: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“

Wenn wir genau hinhören, weiß sogar unser gewohnter Sprachgebrauch darum, dass wir ursprünglich nicht von unseren Eltern, sondern von viel weiter herkommen. Das Kind kommt zur Welt, sagen wir, ja – woher denn? Und: Seine Eltern – nicht nur die Frau, auch der Mann – empfangen es und bringen es zur Welt, wobei der zu leistende und zu erleidende Einsatz zwischen Frau und Mann nicht gerade gleich verteilt ist.

Schwestern und Brüder, wir werden aus Gott geboren, aber sozusagen im Exil. Weshalb sonst fühlen wir uns manchmal wie fremd und heimatlos auf dieser Erde? Ich meine, weil wir Kinder Gottes sind. Die Erinnerung an unsere Herkunft aus Gott gerät aber mit der Geburt in Vergessenheit und ist uns in der Regel nicht bewusst. Dennoch spüren wir sie in der Weise einer Sehnsucht, die uns auf dieser Erde von Anfang an bewegt und zutiefst angewiesen sein lässt auf Beziehung und Begegnung. Wir spüren sie als Sehnsucht nach Liebe, die aber zwischenmenschlich immer nur gestillt und in unserer Erdenzeit nie ganz erfüllt werden kann. Denn diese Sehnsucht hat ihr Maß an der göttlichen Liebe, an dem, was wir Himmel nennen oder Ewigkeit. Das ist unsere ursprüngliche Heimat, die wir als unbewusste Erinnerung in uns tragen.

Ich glaube, dass der Mensch, wenn er stirbt, in die Ewigkeit geht, aus der er kommt. Ich glaube, dass er heimkehrt – dorthin, woher er stammt, in den Himmel.

Ewigkeit und Himmel sind jenseits von Raum und Zeit, jenseits unserer Vorstellungen. Wir brauchen jedoch Bilder: ermutigende, herausfordernde Hoffnungs- und Trostbilder, keine Schreckensbilder vom „Dies Irae“, dem Tag des Zorns. Die Wirklichkeit von Sterben und Tod ist für viele Menschen schon schrecklich genug!

Wie Ewigkeit jenseits aller zeitlichen Vorstellungen ist, weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, sondern den je gegenwärtigen göttlichen Grund des Daseins meint, so sind „Himmel“ und „Hölle“ jenseits aller räumlichen Vorstellungen. Bei der Rede von Himmel und Hölle geht es nicht in erster Linie ums Jenseits, sondern um das rechte Leben im Diesseits.

Es gibt die Redensart vom „Himmel auf Erden“ und von der „Hölle auf Erden“, die wir uns selbst und einander bereiten. „Fegefeuer“ – auch damit ist kein jenseitiger Ort gemeint, an dem man sich eine Zeit lang aufzuhalten hat. Es ist eher vergleichbar mit einem brennenden Schmerz, wenn man momentan erkennt, wann und wo man sich gegen die Liebe verfehlt hat. Eine reinigende, heilende Erfahrung! Auch die ist redensartlich als Fegefeuer bekannt.

Dennoch: einmal werden wir an der Schwelle des Todes stehen! Worauf kommt es am Ende an? Vielleicht dass ich schlicht und einfach sagen kann: „Da bin ich“. Was in diesem Moment aufleuchtet, ist der Sinn der Demut, die unser Mönchsvater Benedikt den Mönchen ans Herz legt. Wer den Weg der Demut geht, der erfährt unausweichlich: ich bin nichts – als ich selbst.

Das gilt es als das einzig Wesentliche zu entdecken: ich bin und muss nichts anderes sein als ich selbst, als der oder als die ich geworden bin durch meine Lebenserfahrung mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Genauso will und kann ich anderen begegnen von Mensch zu Mensch und so darf und soll ich Gott begegnen – mit den schlichten Worten „Da bin ich“ als Antwort auf sein „Ich bin da“ (Exodus 3,14).

In unserer Totenliturgie, meine Brüder, singen wir: „Schenke im Ende, auch die Vollendung.“ Schenke! Doch nicht erst dann, schon in jedem erfüllten Augenblick kann inmitten aller Vergänglichkeit dieses Geschenk offenbar werden, dass die Verlorenheit der vielen Zeitsplitter unseres Daseins immer schon aufgehoben ist – in der Ewigkeit.