Predigt an Allerheiligen (1.11.2024)
von P. Marian Reke OSB
Es knospt
unter den Blättern
das nennen sie Herbst.
Hilde Domin
Im Frühherbst gibt es Tage, die uns mit einem unverhofft heiteren Leuchten beschenken. Noch vor einer Woche machte der Gingko-Baum an der Klosterpforte vor dem strahlend blauen Himmel die Rede vom goldenen Oktober unmittelbar anschaulich. Das in der Natur anhebende jahreszeitliche Sterben war zumindest für Stunden zu glühendem Leben gelichtet. Doch wer wollte sich davon täuschen lassen?! Nur zu gut wissen wir, wie bald schon die steigenden Nebel alles rundum verdüstern. Die lautlos fallenden Blätter im Park erinnern als wortloser Kommentar zum andauernden Lärm der Katastrophennachrichten in den Medien, was scheint’s die Stunde geschlagen hat.
Die sprichwörtliche Novemberstimmung nimmt derzeit für meine Wahrnehmung eine apokalyptische Färbung an! Vielen geht sie ans Gemüt.
Da erinnert uns gleich zu Beginn des dunklen Monats die Liturgie der Kirche – sozusagen als Gegenanzeige – an die Vision einer neuen Welt, an die Vision vom Menschen im Glanz seiner Ganzheit, an die Vision vom Einssein der Menschheit und der gesamten Schöpfung, an die Vision vom Heil, von Heilung und Heiligung. Wir feiern Allerheiligen. Wir feiern die Berufung und die Befähigung aller Menschen, einer jeden, eines jeden von uns, sich von all den Todesschatten ringsum nicht verwirren zu lassen, sondern den Schleier herbstlichen Trübsinns, der sich über die Dinge breitet, zu durchschauen. Mit den Augen eines vertrauensvollen Herzens können und dürfen wir entdecken, dass – um im Bild der Natur zu bleiben – die Blätter nur deshalb fallen, weil das Wachstum des Baumes bereits kleinste Knospen treibt, obschon es noch einen Winter lang Kraft zu neuem Aufbrechen sammeln muss.
Immer wenn eine bisher gültige und deshalb in sich bewegliche Gestalt des Lebens kraftlos wird und schlaff oder in Enge erstarrt, dann gilt es zu erkennen und mehr noch zu erspüren, dass das Leben selbst sich neu und womöglich ganz anders ausdrücken will. Dann gilt es zu lassen, sich im Lassen zu üben. Lass es sein – das Leben, wie es ist oder wie es eben geschieht. „Let it be“ – sangen in unseren jungen Jahren die Beatles, und wir haben unbeschwerten Herzens mitgesungen, weil das Leben mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten noch vor uns lag. Let it be! Im Alter kommt uns das nicht mehr so leicht über die Lippen, wenn wir die Vergänglichkeit immer bedrängender wahrnehmen – unsere Endlichkeit.
Man ahnt: bald werden wir uns lassen, loslassen müssen. Die üblichen Vorstellungen, die wir damit verbinden, können uns ängstigen, die Vorstellung: was losgelassen wird, fallt, fällt hin und dahin.
Allmählicher Verfall – diese uns zugewandte Seite des Alterns könnte jedoch eine Kehrseite haben. Unsere je eigene irdische Gestalt vermag anscheinend das Leben nicht mehr zu fassen und zu halten, ist für das Leben in seiner Fülle nicht weit und offen genug. Ich ahne durch alle Ängste und Zweifel, durch Auflehnung und Trotz, durch alle Trauer hindurch, dass auch das Sterben ein Ausdruck des einen Lebens ist. „Es knospt unter den Blättern …“ – deshalb welken und fallen sie. Ein ungewohnter Gedanke, ich weiß, ein Trostgedanke – und im Glauben müsste er keine bloße Vertröstung bleiben.
Früher trugen wir in Königsmünster am Vorabend von Allerheiligen zur Vigil das Reliquiar aus der Krypta zur Verehrung in den Mönchschor der Abteikirche – ein Ritual, mit dem ich auch meine Schwierigkeiten hatte. Irgendwann aber ging mir durch den Sinn: diese Gebeine kanonisierter Heiliger sind wie die Leichen in den Särgen oder die Asche in der Urne buchstäblich „Re-liquien“, das Zurückgelassene der Gestalt der einen Lebensfülle, wie sie sich in jedem, in je-dem(!) unverwechselbaren und unwiederholbaren Menschen ausgeprägt und gezeigt hat. Der Glaube bezeugt, dass dieser einzigartige schöpferische Ausdruck des Lebens zu jener unerschöpflichen Fülle gehört, in der jeder Mensch ewig aufgehoben ist. Seine zurückgelassene, zerfallende Gestalt – die Reliquien – ehren wir wie die Gräber also zu Recht.
Reliquienkult – so verstanden und in diskreter Weise geübt – kann sinnvoll sein, ein Zeichen menschlicher Würde. Doch verlangt dieser Kult, damit er nicht zu kurz gerät, nach einer entsprechenden Kultur, nach der Kultur des Leibes und des leibhaftigen Daseins überhaupt – aus Ehrfurcht vor der lebendigen Gestalt des Lebens. Gerade wenn wir Reliquien in kostbaren Schmuck fassen und bisweilen in einem goldenen Schrein bergen, der einem edlen Haus gleicht, müssen wir uns umso mehr darum kümmern, dass jeder Mensch zu Lebzeiten seinen Leib umsorgen und in ihm auf dieser Erde ein Haus bewohnen kann. Das gilt für die alltägliche Sorge um uns selbst und umeinander – bis hin zur Hospiz- und Palliativpflege.
Ich weiß, dass wir mit unserem Totenkult immer auch zu spät kommen, weil uns die Lebenskultur – zumal im Blick auf andere, gerade auch auf uns nahe Menschen – nie ganz gelingt. Vielleicht liegt genau darin ein Grund aller Trauer. Dennoch: es gilt, sich darin nicht resignativ zu verfangen, sondern Tritt zu fassen, um in großen und kleinen Alltagsschritten gegenwärtiger Lebenskultur einzuholen, was in den Ritualen des Reliquienkultes einst in festlichem Ernst begangen wurde und heutzutage mehr oder weniger bloß Folklore ist.
Letztendlich kommt es darauf an, in das CREDO des Allerheiligenfestes einzustimmen. Es kündet vom Vertrauen zum Gott des Lebens, das uns alle gewiss sein lassen kann:
Ich bin eine Gestalt der unerschöpflich schöpferischen Liebe – unverwechselbar und unwiederholbar. Ich bin diese einzigartige und doch mit allen und allem verbundene menschliche Gestalt des einen Lebens: erfahrbar, hörbar und sichtbar für den mir zugemessenen Zeit-Raum des Daseins und zugleich verborgen und geborgen im Geheimnis der Ewigkeit, aus der ich stamme, in die ich zurückkehre, die unser aller Heimat ist.