Predigt am 26. Sonntag im Jahreskreis (1.10.2023)

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von Br. Anno Schütte OSB

Dem heutigen Abschnitt des Evangeliums gehen wichtige Ereignisse voraus: Ein neuer Abschnitt im Leben Jesu hatte begonnen – er war aus der Provinz imposant in die Hauptstadt Jerusalem eingezogen. Dann steigerte sich die öffentliche Aufmerksamkeit weiter: Es gab Aufruhr, als er Händler und Käufer aus dem Tempel trieb und die Tische der Geldwechsler umstieß. Er heilte dort Menschen und Kinder jubelten ihm zu. Das verärgerte religionsamtliche Führungspersonal – Hohepriester und Schriftgelehrte – sprach darauf Jesus an und nach einem kurzen Disput ließ Jesus sie einfach stehen und ging weg. Am nächsten Tag verschärfte sich die Konfrontation weiter – jetzt vereint mit der politischen Führung, den Volksältesten: Ihre Frage nach seiner Handlungsvollmacht konterte Jesus mit einer Gegenfrage, in der sie sich so spekulativ verhedderten, dass Jesus sie ohne Antwort wiederum einfach stehen ließ.

Es ist eine spannungsgeladene Lage, in die Matthäus das heutige Evangelium platziert. Kontroversen, ja heftiger Streit liegen in der Luft. Eines wird damit schon jetzt klar: Jesus ist nicht harmlos – er stellt Fragen, seine Botschaft regt an, seine Lebensart mischt auf. – Soweit eine erste Einordnung.

Jesus ist schon länger mit seinen Jüngern verkündend und heilend unterwegs, doch das religiöse und politische Establishment erkennt darin nichts Positives, keine Chance für sich – im Gegenteil: Mit „Was meint ihr?“ stellt Jesus ihr Leben buchstäblich in Frage, mehr noch: Sie erleben ihn als einen fortwährenden Angriff auf ihre elitäre Lebensweise. Und es wird noch schärfer: Ein ganzes folgendes Kapitel lang schüttet Jesus einen Wehe-Ruf nach dem anderen aus – eine Kostprobe: „Weh Euch, ihr Schriftgelehrten (…), ihr Heuchler, ihr verschließt den Menschen das Himmelreich! … Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut!“ Auch wenn die Bibelwissenschaft heute weiß, dass Matthäus diese Konfrontation nachträglich literarisch ausgebaut hat, sind wir Zeugen eines massiven Konfliktes, der ein wesentlicher Grund für die bald folgende Hinrichtung Jesu am Kreuz wurde.

Worin bestand dieser Grundkonflikt? Kann der auch etwas mit uns zu tun haben? Können wir daraus lernen? – Er hat mit uns zu tun, wenn wir die Figuren des Gleichnisses als typische Charaktere verstehen, die immer und überall existieren. Sie halten uns in vielfältiger Weise vor Augen, wie unterschiedlich Menschen mit dem Lebensangebot Jesu umgehen.

Offensichtlich ist es eine Gefahr, wie diese Schriftgelehrten zu leben: Man hat es zu etwas gebracht und weiß ziemlich genau, wo es langgehen soll. Gern diktiert man anderen, wie man zu leben hat, man hat eben seine Erfahrung. Und wenn die nicht ausreicht, dann wird irgendeine Schrift zitiert – gerne die Stellen, die einem selbst in den Kram passen. Mangels innerer personaler Charakterklarheit soll eine äußere Quelle die innere Leere füllen. Solche Schriftgelehrte setzen ihre Interpretation der Schrift als selbstschützenden Panzer und aggressive Waffe ein. Sie agieren Angst getrieben, haben sich Privilegien erobert und verteidigen diese gewalttätig – es geht um Besitz-Stands-Wahrung in einem festgefahrenen Leben. Tatsächlich werden sie bald, dann total-final – man beachte die Sprache – feststellen: „Wir haben ein Gesetz und demnach muss er sterben!“ – Lebendigkeit, Lieben im Leben, das hört sich anders an. Kurz und gut: „Der Buchstabe tötet – der Geist macht lebendig.“ – Hat Jesus auch deshalb nichts aufgeschrieben? Seine mündliche Rede, seine Gleichnisse sind offen, sie sind ein Angebot an jeden einzelnen von uns, aus ihnen zu leben und sie weiter zu verkünden.

Zurück zu unserem Gleichnis: Jesus gibt seine Kontrahenten noch nicht auf – ein neuer Kontakt mit ihnen ist ihm wichtig. Mit der Frage „Was meint ihr?“ bietet er wieder ein Gespräch an. Jesus entlarvt ihre blockierte Lebensweise mit dem Gleichnis von den zwei Söhnen. Der eine lehnt die Bitte des Vaters zunächst ab und geht schließlich doch zur Arbeit in den Weinberg. Der andere entpuppt sich als glatter Lügner: Er sagt zu und geht dennoch nicht. Der erste erweist sich als ein Mensch, der seine ursprüngliche Ablehnung bereut. Eigene Einsicht überzeugt ihn, sein Leben zu verändern, sich weiter zu entwickeln. Dabei hilft, dass der Vater den äußerlich schon Erwachsenen „mein Kind“ nennt: Innen ist er noch unreif, die Ansprache des Vaters klingt wie eine liebevolle Zuwendung, die dem Sohn weiteres Wachstum ermöglichen will. Dieser erkennt die Notwendigkeit der Arbeit im Weinberg und vielleicht freut er sich auch auf den Genuss des guten Weines, der nur aus einem durch Arbeit gepflegten Weinberg gewonnen wird. Er entdeckt in der Bitte des Vaters das Angebot, selbst wie ein guter Wein zu reifen. Die auch mühsame Arbeit im Weinberg ist der Weg dahin – Selbstentwicklung ist keine Hängematte!

Der zweite versucht‘s mit einer Lüge. Sein „Ja“ ist nur Schein, es ist eine leere Worthülse, Sagen und Tun fallen auseinander, er füllt sein „Ja“ nicht durch sein Tun. Sein leeres Ja zeigt: Sein Leben hat keine innere Substanz, sein Inneres entspricht nicht seinem Äußeren. Er versucht mit einer Lüge durchzukommen – vielleicht steht sie für eine grundlegende Lebenslüge. Er bricht nicht auf, sondern bleibt in seiner Verweigerung zu Hause sitzen.

Jesu Frage: „Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt?“ beantworten die Schriftgelehrten formal richtig, doch ihre Antwort ist nur ein Lippenbekenntnis. Sie erkennen nicht, dass Jesus mit dem Gleichnis ihnen den Spiegel vorhält: Sie leben wie der zweite Sohn, der die Bitte des Vaters äußerlich formal annimmt und bejaht, dann aber nicht danach handelt. Sie leben äußerlich ein Ja und innerlich ein Nein und bleiben dabei. Sie verweigern sich dauerhaft der Bitte des Vaters, sie wollen sich nicht bewegen und engagieren, nicht im Weinberg an der Basis arbeiten. Bei ihnen können keine Lebensfrüchte wachsen und reifen. An anderer Stelle sagt Jesus: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Auch wenn diese Schriftgelehrten äußerlich so tun, gehen sie nicht in den Weinberg, sie gehen nicht ins Reich Gottes.

Eine Alternative ihrer Verweigerungshaltung präsentiert Jesus ihnen sogleich: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ Während Schriftgelehrte und Ältesten zur obersten zentralen Gesellschaftsschicht gehörten, waren Zöllner und Dirnen am anderen Ende – ausgegrenzt und ganz unten. Zöllner galten als hemmungslos raffgierige Betrüger, Dirnen als gescheiterter moralischer Abschaum. Doch gerade sie sind offen für das Reich Gottes. Sie wissen um ihre Fehler, ihre Schwäche – auch ihr moralisches Versagen. An anderer Stelle sagt Jesus: „Ich bin gekommen, die Sünder zu berufen, nicht die Gerechten.“ Menschen wie ihnen hat Jesus ihre ursprüngliche unzerstörbar göttliche Würde wieder vermittelt. Das hatte schon Johannes ermöglicht, der – so Jesus ausdrücklich – auf dem „Weg der Gerechtigkeit“ war. Das klingt nach einem aus- und aufrichtenden Weg in eine personale Richtigkeit, nach Veränderungsbereitschaft zu einem stimmigeren Leben. Die Schriftgelehrten dagegen haben sich in ihrer Selbstgerechtigkeit der Botschaft des Johannes verweigert. Und wenn sie schon von Johannes nichts angenommen und umgesetzt haben, dann haben sie Jesu Botschaft von Anfang an nicht kapiert. Sie haben nur gesehen, ihre Wahrnehmung ist nur äußerlich – zu innerer Umkehr, Reue, wie beim ersten Sohn, waren und sind sie nicht fähig und bereit.

Und doch bleibt Hoffnung – auch für sie. Jesus sagt: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ Irgendwann wird also auch ihnen aufgehen, dass ihr Lebensmodell einem leeren Palast gleicht – außen glanzvoll, innerlich tot. Das Angebot göttlichen Liebens, seine unzerstörbare Gegenwart in allen und allem braucht bei Menschen wie ihnen länger bis zu einer Auferstehung mitten im und ins Leben.

Diese Hoffnung gilt auch uns, die wir uns selbst und andere oft abwerten, ausgrenzen und fixieren. Gott lädt immer wieder neu ein – jeden von uns – dem Leben zu trauen und Neues zu wagen, gerade auch aus Scheitern und Versagen heraus in eine neue Auferstehung. Gott schenkt uns immer bedingungslos neues Leben. Diese Erlösung löst Fixierungen und ermöglicht Liebe, Leben – und Lösungen, mitten im Alltag.