Hier finden Sie die Predigten unserer Brüder – sofern diese mit der Veröffentlichung einverstanden sind – zum Nachlesen. Gerade in der Zeit, in der unsere Gottesdienste wegen der Verbreitung des Coronavirus nicht öffentlich sind, möchten wir Ihnen so Anteil geben an unserem Leben.

von Abt Cosmas Hoffmann OSB

Der Titel eines Films von Rainer Werner Fassbinder aus den 1970er-Jahren „Angst essen Seele auf“ beschreibt anschaulich und knapp die zersetzende und alles überlagernde Kraft eines Gefühls, das viele Menschen in den letzten Wochen und Monaten in seinem Bann hält.
Im Blick auf die politischen Entwicklungen drängten einen schon die ersten Krawalltage der neuen amerikanischen Präsidentschaft dazu, sich lieber auf das Schlimmste einzustellen und dann kam es von jenseits des Atlantiks immer schlimmer.
Populisten nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa, auch in unserem Land schüren die Ängste der Menschen vor Zuwanderung, Fremden, Wohlstandsverlust und Kriminalität – das ist ihre Spezialität, denn wer Angst hat, ist leicht zu manipulieren.
Wir fühlen uns in einem Mahlstrom schlechter Nachrichten, der uns aufzureiben scheint. Was bleibt, ist das Gefühl der Ohnmacht, das das Herz eng macht, die erschreckende Ahnung den Geschicken dieser krisengeschüttelten Welt vollkommen ausgeliefert zu sein: Was bitte kann ich da noch ausrichten oder gar verändern?
Doch wer seine Hoffnung verloren hat und eben nur noch mit dem Schlimmsten rechnet, erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange, vermag nicht mehr klar zu denken aus lauter Panik, ist unfähig nach Lösungen zu suchen und empfänglich für jene, die vermeintlich einfache Lösungen anbieten.

Doch statt einer Rhetorik der Angst bräuchte es jetzt eine der Verantwortung, eine der Verhältnismäßigkeit, bräuchte es die Kunst der Unterscheidung der Geister, um ruhig und sachlich zu erkennen und zu benennen, worum es geht und was zu tun ist.
Die Voraussetzung einer guten Unterscheidung der Geister ist die achtsame Wahrnehmung, zu der Benedikt gleich mit dem ersten Wort seiner Regel „Höre!“ aufruft. Genau diese Forderung der Regel hat der Prediger des Benediktsfestes im letzten Jahr, Erzbischof Udo Markus, klar und engagiert dargestellt. So passt es gut, am diesjährigen Benediktsfest den nächsten Schritt, die Unterscheidung der Geister, näher in den Blick zu nehmen.
Die Kunst der Unterscheidung der Geister findet sich bereits in der Hl. Schrift, sie wurde weiterentwickelt von den frühen Mönchen, den Wüstenvätern, deren Traditionen Johannes Cassian Anfang des 5. Jahrhunderts in seinen Schriften zusammenfasst. Benedikt folgt den Darlegungen Cassians und schätzt die discretio, so der lateinische Fachbegriff für die Unterscheidung der Geister, als Mutter aller Tugenden (RB 64,19), die dem einzelnen und der Gemeinschaft in der Suche nach dem Willen Gottes dient. Nach Gregor d.Gr. zeichne sich die Benediktsregel selbst vor allem durch ihre discretio aus.

Das Wort discretio ist die lateinische Übersetzung des griechischen Ursprungswortes diakrísis im Neuen Testament (u.a.1Kor 12,10; Hebr 5,14). In diesem griechischen Wort findet sich das eingedeutschte Wort „Krise“, das vom Verb „krínein“ (trennen, unterscheiden) abgeleitet ist. Das mit diesem Verb verbundene Tun wird oft mit einer Waage verglichen, die so lange unruhig hin- und herschaukelt, bis die Balance gefunden ist und die Waagschalen in eine Ruheposition gekommen sind.
In diesem Sinne eine Unterscheidung, d.h. Differenzierung, vorzunehmen, oder in einem weiteren Schritt eine Entscheidung zu treffen, bedeutet konkret, dass ich eine Situation, eine Angelegenheit, eine Frage wahrnehme und abwäge, bis mir klar ist, wie ich zu entscheiden, was ich zu tun habe.
Ich persönlich weiß sehr genau, wie es sich in mir anfühlt, wenn ich vom Kopf, vom Bauch und vom Herzen her erkenne, was richtig, was vom guten Geist ist, denn dann erlebe ich nach vielem Hin und Her der Gefühle und Gedanken, dass sich eine tiefe Ruhe und Gewissheit einstellt.

Die discretio ist Cassian zufolge die Unterscheidung zwischen dem guten und dem bösen Geist, zwischen dem, was mir auf dem Weg zu Gott nützt und was nicht. Konkret übt der Mönch die discretio, indem er wachsam auf die Gedanken und Bewegungen seines Herzens achtet; er beobachtet ihren Anfang und Verlauf und achtet auf die Motivation seines Tuns. Dabei weiß er, dass der böse Geist Unruhe, Verwirrung und Traurigkeit, der gute Geist Ruhe, Freude und Klarheit bringt.
Damit sind wir wieder bei der Ruhe, beim inneren Frieden, der als wahrnehmbares Merkmal des guten Geistes, der guten Unterscheidung gilt. Genau diese Ruhe zu finden, ist die verständliche Sehnsucht vieler Menschen in den aktuell wirren Zeiten.

Ein dritter Schritt ist dann das, was Benedikt nach dem Hören und Unterscheiden als nächstes fordert: „Erfülle es durch die Tat!“ (RB Prol 1).
Darum bedarf es neben der Rhetorik der Unterscheidung auch einer Rhetorik der Tatkraft, des ruhigen und starken Beispiels. Dahinter steht die Erfahrung, dass Ängste an Macht verlieren, wenn man sich selbstwirksam erlebt, etwas anpackt, gerade auch im Kleinen. Das kann konkret heißen, sich ehrenamtlich zu engagieren, Mut zum Widerspruch zu wagen, eine Geste der Solidarität und Unterstützung zu riskieren, politisch aktiv zu werden, sich in der Demokratie einzubringen. Denn die Demokratie lebt davon, dass die Bürgerinnen und Bürger sich daran beteiligen und nicht davon, dass von oben herab Dekrete erlassen werden, die mit dickem Filzstift kamerakonform unterschrieben werden.

Bei seiner ersten Vereidigung in das Amt des amerikanischen Präsidenten sagte Franklin Delano Roosevelt am 4. März 1933: „Also zunächst einmal lassen Sie mich meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass es nur eine Sache gibt, die wir fürchten müssen, die Furcht selbst“.
Mittlerweile scheinen die europäischen Regierungen wieder ihre Fassung gewonnen zu haben und damit auch die Tatkraft, sich den aktuellen Herausforderungen gemeinsam zu stellen.
Hoffen wir, dass in unserem Land zeitnah eine neue Regierung gebildet werden kann – erste Schritte wurden ja schon unternommen.

Doch letztlich liegt es an uns allen, dass wir uns als Bürgerinnen und Bürger und vor allem auch als Getaufte engagieren, Unterscheidung und Tatkraft verbinden.
Dafür ist gerade diese Zeit auf dem Weg zum Osterfest eine gute Gelegenheit, denn in der Osterfeier strahlt uns die Hoffnung auf, dass wir, wie Benedikt am Ende seiner Regel schreibt, gemeinsam mit Christus, dem Auferstandenen, zum ewigen Leben gelangen (RB 72, 12).

Folgen wir den Empfehlungen von Bischof Georg Bätzing, der letzte Woche als Vorsitzender während der Deutschen Bischofskonferenz auf der Frühjahrsvollversammlung dafür geworben hat in diesen Tagen: „in kleinen Schritten das tägliche Verhalten zu verändern: Mitgefühl, Barmherzigkeit, die Achtung der Würde und der unveräußerlichen Rechte jeder Person, ein weniger individualistisches und mehr gemeinschaftliches Verständnis von gutem Leben, Frieden und Sicherheit und die Entwicklung von Gemeinschaft über Unterschiede hinweg, Gottesdienst durch Nächstendienst, ein durch die Liebe wirkender Glaube.“

Wenn wir dies wagen, kann wahr werden, was uns in der Lesung aus dem Philipperbrief (4,4-9) verheißen wurde:
„Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Der Herr ist nahe. Der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in Christus Jesus bewahren. Und der Gott des Friedens wird mit euch sein.“

von P. Maurus Runge OSB

Ein sehr einprägsames und beeindruckendes Erlebnis bei einer meiner Reisen nach Tansania ist für mich der Besuch der sog. Kalambo Falls an der Grenze zu Sambia gewesen. Es handelt sich dabei um die zweitgrößten Wasserfälle in Afrika. Man nähert sich ihnen über ein Hochplateau und steigt dann ca. 1000 Stufen in die Tiefe hinab. Einmal angekommen, erlebt man ein gewaltiges Naturschauspiel. Das Wasser stürzt mit gewaltiger Kraft den Berg hinab und versinkt unten in einem mystisch anmutenden Nebel. Was für mich diese Naturerfahrung aber noch kostbarer machte, war, dass ich sie nicht alleine erlebte, sondern gemeinsam mit einem guten Freund, einem Mitbruder aus einem unserer tansanischen Klöster. Wir saßen gemeinsam an den Wasserfällen, hielten ein kleines Picknick, sprachen miteinander oder betrachteten einfach nur schweigend das Naturschauspiel – bevor wir uns wieder an den anstrengenden Aufstieg zum Plateau machten.
Naturerfahrung auf der einen Seite, menschliche Begegnung auf der anderen Seite – beides zusammen machte diese Erfahrung für mich zu einer Gipfelerfahrung, einem wahren Tabor-Erlebnis. Auch bei Jesus und seinen Jüngern im heutigen Evangelium kommen beide Aspekte zusammen. Die überwältigende Naturerfahrung im Aufstieg auf den Tabor und menschliche Begegnungen: Nicht umsonst nimmt Jesus drei seiner engsten Freunde mit auf den Berg. Und auf dem Berg spricht er mit Mose und mit Elija wie mit Freunden.
Kein Wunder, dass Petrus drei Hütten bauen will, diese wunderbare, so schwer begreifliche und gnadenhafte Erfahrung also festhalten und verstetigen will. Auch ich dachte mir bei meinem persönlichen Tabor-Erlebnis, wie schön es wäre, dort lange zu bleiben und die gemeinsame Gegenwart miteinander zu genießen. Allein – der Alltag ruft wieder. Jesus und die Jünger müssen den Berg wieder hinabsteigen nach Jerusalem, wo Leiden und Kreuz auf sie warten.
Mitten in der Fastenzeit, quasi als Gegenpol zur Versuchungsgeschichte vergangene Woche, hören wir die Begebenheit von Jesu Verklärung auf dem Tabor. Wie wichtig sie anscheinend ist, sehen wir daran, dass drei Evangelisten sie uns überliefern. Wir erleben sozusagen einen Vorschein der Auferstehung, eine Unterbrechung der Fastenzeit. So wie auch die Sonntage der Fastenzeit keine eigentliche Fastenzeit sind, sondern Vorschein der Auferstehung, Unterbrechung des Alltags im Fest. „Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung“. So hat es Johann Baptist Metz präzise auf den Punkt gebracht. Wir alle brauchen im tristen, grauen Alltag, solche lichtvollen Unterbrechungen, Gipfelerfahrungen, Momente des Glücks, der Freundschaft, um Kraft zu schöpfen für unseren weiteren Weg. Und diese Momente können wir nicht machen und erst recht nicht festhalten, auch wenn wir uns in Zeiten von Handykameras zumindest besser daran erinnern können – sie werden uns geschenkt. Und genauso schnell, wie sie gekommen sind, gehen sie auch wieder.
In diesen geschenkten Gipfelerlebnissen verschwimmen die verschiedenen Zeitebenen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen ineinander.
Vergangenheit: Mose und Elija, die großen Gestalten von Israels Vergangenheit, der Tora und der Propheten, erscheinen und reden mit Jesus wie Freunde.
Gegenwart: ein Augenblick tiefster Präsenz ereignet sich hier. Ich darf einfach da sein – in der Gegenwart Gottes und in der Gegenwart des Freundes, der Freundin.
Zukunft: das Gespräch, das Jesus führt, dreht sich um die Zukunft, um das gewaltsame Ende, das für die Jünger –  und wohl auch für Jesus – so schwer zu verstehen ist. Und einen Vorschein dieser Zukunft dürfen die Jünger schon in der Gegenwart erleben, wenn sie Jesus im Lichtglanz sehen – und dann gleich wieder die Wolke, die sie überschattet: Symbol des Nicht-Machbaren, Vergänglichen. Was bleibt, ist die Zusage, die die Stimme aus der Wolke verkündet: „Dieser ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.“ Diese Zusage ist auch uns gesagt: „Dieser ist mein auserwählter Sohn, diese ist meine auserwählte Tochter.“ Auch wir sind auserwählte, geliebte Kinder Gottes. Mit dieser Zusage können wir dann getrost hinabsteigen vom Berg der Verklärung in unseren oft tristen Alltag. Und wenn wir unsere Gipfelerlebnisse als kostbaren Schatz in uns tragen, dann kann sich vielleicht gerade dieser Alltag als eigentlicher Ort der Verklärung erweisen: als Ort der Gegenwart Gottes, seiner Präsenz in uns. AMEN.

von P. Maurus Runge OSB

Wahlsonntage gehören zu den prägendsten Erinnerungen meiner Kindheit. Ich erinnere mich gut daran, wie ich schon als kleiner Junge am Morgen solch eines Wahlsonntags mit meiner Mutter zum Wahllokal eine Straße weiter ging, das in einer urigen Vorstadtkneipe untergebracht war. Dort angekommen, zeigte sie mir genau, wie der Wahlvorgang funktioniert: vom Abgeben der Wahlbenachrichtigung, der geheimen Wahl in der Stimmkabine, wie das mit der Erst- und Zweitstimme ist, und schließlich dem Einwerfen des verschlossenen Umschlags in die Wahlurne. Mir wurde an diesen Wahlsonntagen deutlich, was es für ein Privileg war, wählen zu dürfen, selbst mitbestimmen zu können, wer in unserem Land politisch Verantwortung übernimmt. Ich erinnere mich auch an lange Wahlabende vor dem Fernseher, wo mit Spannung die erste Prognose um 18 Uhr erwartet wurde und darauf geschaut wurde, ob es die bevorzugte Partei geschafft hat und wie sich der nächste Bundestag zusammensetzte.
Dieses Privileg, wählen zu dürfen, ist mir dann im Laufe der Jahre immer mehr bewusst geworden, vor allem, als ich von Ländern hörte, in denen dieses Privileg nicht existierte. Vor einem Monat stand ich an der innerkoreanischen Grenze und schaute vom demokratischen Süden Koreas in den Norden, also in ein Land, wo keine freien, demokratischen Wahlen möglich sind. Es ist gut, dass wir in unserem Land die Möglichkeit freier Wahlen haben, und ich freue mich darauf, heute mit meiner Stimmabgabe dazu beitragen zu dürfen, dass dieses Privileg auch für die zukünftigen Generationen erhalten bleibt.
Nun haben wir in den letzten Wochen einen kurzen Wahlkampf erlebt, der nichtsdestotrotz sehr heftig und bis an die Grenzen – und manches Mal über die Grenzen des menschlichen Anstands hinaus – geführt wurde. In Wahldebatten wurden Halbwahrheiten in den Raum geworfen, der politische Gegner wurde verunglimpft, und so manches Mal fragte ich mich, wie eigentlich die Parteien nach der Wahl wieder miteinander sprechen, geschweige denn Koalitionen eingehen können.
In den heutigen Lesungen werden uns Beispiele vor Augen geführt, wie Menschen mit Gegnern, mit „Feinden“ umgehen können, die ein Alternativmodell sein können, wie es eben auch gehen kann.
In der Lesung wird uns vom jungen David berichtet, der sich auf der Flucht vor seinem einstigen Förderer und jetzigen erbitterten Gegner, König Saul, befindet. Dieser trachtet David nach dem Leben, will ihn töten, weil er Angst um seine Macht hat. Und da bietet sich David auf einmal eine Situation an, wo er den Spieß umdrehen und Saul töten kann. Und was macht David? Er gebietet seinem Heerführer Einhalt und geht schlicht und einfach weg, ohne Saul ein Haar zu krümmen. David steigt aus aus dem Spiel der Gewalt und lässt den am Leben, der ihn selbst, ohne mit der Wimper zu zucken, vernichten würde. Eine wahrhaft menschliche Größe wird uns da vor Augen geführt.
Auch Jesus ermutigt im Evangelium seine Jünger dazu, anders mit ihren Feinden umzugehen, als man es von ihnen gemeinhin erwarten würde: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen; segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!“ Jesu Forderungen stehen der rein menschlichen Logik von Gewalt und Konkurrenz so sehr entgegen, dass viele diese als „Moral für Schwächlinge“ bezeichnen. Ich glaube allerdings fest daran, dass solche „paradoxen Interventionen“ nichts mit Schwäche und Feigheit zu tun haben, sondern im Gegenteil eine ganz große Stärke und innere Freiheit desjenigen offenbaren, der so handelt. Auch weil unsere normale menschliche Reaktion auf Situationen, in denen wir von anderen Unrecht erleiden, doch eher ganz anders ist: Dem zahle ich es mit gleicher Münze heim! Was erlaubt die sich eigentlich, sich so mir gegenüber zu verhalten? Soll er mal sehen, was er davon hat!
Der jüdische Theologe Pinchas Lapide spricht nicht von Feindesliebe, sondern von Entfeindungsliebe, und spricht dabei etwas Wahres an: Menschen, die ich gemeinhin als Feinde, als Gegner bezeichne, so zu behandeln, dass ich nicht mehr den Feind in ihnen sehe, sondern den Menschen, über den Gott genau so seine Sonne auifgehen lässt wie über mich. Und so möchte ich einmal versuchen, die Weisungen Jesu in unsere Zeit hinein zu übersetzen:
Behandle Menschen, die anderer Meinung wie du sind, nicht als Feinde!
Wenn du das Gefühl hast, dass jemand ungerecht zu dir ist, antworte ihm so, wie er es nicht erwarten würde!
Sag öffentlich nur Gutes über andere, und wenn du Kritik üben musst, tu das so, dass du mit ihm später noch zusammenarbeiten kannst!
Wenn nichts mehr hilft, bleibt dir immer noch das Gebet. Das kann deinen Blick auf den anderen verändern.
Wenn dich jemand ungerecht behandelt, dann handle so, wie es dieser nicht erwarten würde. Überrasche ihn positiv mit deiner Reaktion.
Denk vor allem daran, dass auch der andere seine Wunden und Verletzungen mit sich herumschleppt, so wie du, und dass auch du es nicht magst, wenn andere in deinen Wunden herumstochern.
Spiel dich nicht auf zum Richter über andere, und verurteile niemanden, bevor du seine Motive kennst.
Sei vor allem barmherzig, d.h., zeige Herz, denn auch Gott hat ein Herz für dich. Gib von dem, was du hast und kannst, in Fülle, setz deine Talente und Gaben ohne Hintergedanken ein, und freu dich über das, was der andere hat und kann, über seine Talente und Gaben – dann werdet ihr gemeinsam Großes schaffen.
Und denk immer daran: Du hast die Wahl, dich für Menschlichkeit und Solidarität zu entscheiden – politisch und privat. AMEN.

Da hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte:
„Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“
Ich antwortete: „Hier bin ich, sende mich!“

Der letzte Satz der 1. Lesung
steht wie ein Grundthema über den Texten dieses Sonntags.
„Wen soll ich senden?“

Aber ganz so einfach ist es mit Berufung und Antwort
dann wohl doch nicht wie es in diesen beiden Versen klingt.

Die Texte dieses Sonntag zeigen es.

Jesaja sieht sich verloren
angesichts der Herrlichkeit Gottes.
Er trifft auf Gott, ohne darauf vorbereitet zu sein.

Er sieht sich unwürdig, die Botschaft Gottes weiter zu sagen,
„ein Mann mit unreinen Lippen“.

Und doch am Ende steht seine Bereitschaft
– und eine große Aufgabe wartet.

 

Norbert Riebartsch legt Petrus zum heutigen Evangelium
die folgenden Worte in den Mund:

„Ich wollte doch eigentlich gar nicht. Meine Nachtschicht als Fischer war zu Ende. Es war frustrierend. Keinen Fisch habe ich gefangen. Jetzt nur aufräumen und ins Bett.
Dann kommt dieser Wanderprediger. Von meinem Boot aus will er eine Predigt halten. Auch das noch.
Aber ich habe mitgemacht. Seine Worte waren so, dass ich meinen Ärger vergessen habe. Ich habe mich sogar darauf eingelassen, noch einmal die Netze auszuwerfen. Dabei gehen am Morgen doch keine Fische ins Netz.
Es war der Fang meines Lebens. Diesen Prediger zu begleiten, wurde die Aufgabe meines Lebens.“

Petrus erkennt sich als Sünder,
er bittet Jesus wegzugehen.
Doch der bleibt beharrlich
– nimmt Petrus dann doch seinen Ruf an.

Berufung.
Den Ruf hören.
Auf den Ruf antworten.

Schnell wird Berufung
auf „geistliche Berufe“ enggeführt.

Oder zumindest im Blick
auf grundlegende Entscheidungen in unserem Leben:
Lebensform, Beruf, Engagement, …

Ist es das tatsächlich?

Ist Berufung nicht weniger ein Moment
als ein Weg?

Für Jesaja begann der schwere Weg als Prophet
nach seinem „Hier bin ich“.

Petrus sollte schmerzvoll erfahren,
was ein Leben in der Nachfolge Jesu bedeutet.

Für beide war ihre Entscheidung eine,
die tief in das Leben,
in das ganz alltägliche Leben hineinreichte.

Ergeht uns das auch so?

Ist unser Alltag geprägt von dem,
weshalb wir heute morgen hier sind?
Sind wir ganz alltäglich erfüllt
von einer tiefen Sehnsucht, die uns erfüllt?

Ahne ich zumindest, was Gott mit mir vorhat?

Weil jeder Mensch ein Original, also einmalig ist,
hat er oder sie auch eine einmalige Berufung.

Lasse ich mich darin auch von anderen bestärken,
von ihnen herausfordern?

Lasse ich mich einbinden,
damit das Reich Gottes wächst und lebt?

Oder reagiere ich eher wie Petrus:
Es hat ja doch keinen Sinn.
„Wir haben doch die ganze Nacht gefischt
und nichts gefangen …“
Haben wir nicht alles schon versucht?

Jesu Antwort wäre vermutlich: NEIN.

Vielleicht soll ich wie Petrus
einfach nur mein Boot zur Verfügung stellen,
das, was ich habe und kann.

Vielleicht muss ich mich wie Petrus neu entflammen lassen
von der befreienden Botschaft Jesu.

Vielleicht muss ich dem Ruf tief in mir folgen,
auch wenn ich mir nicht ausmalen kann,
wohin es führt.

Vielleicht sind es gerade die Stunden des Misserfolgs,
der Verzweiflung,
die gewöhnlichen Stunden im Alltag,
die Herausforderung durch Situationen oder den Nächsten,
an die Gott anknüpft.

„Auf dein Wort hin
werde ich die Netze auswerfen …“

 

In der lateinischen Liturgie sagt der Priester
am Schluss des Gottesdienstes: „Ite missa est!“,
– „Geht hinaus, ihr seid gesendet!“

Ihr seid gesendet, das Wort Gottes,
die „Frohe Botschaft“ weiterzutragen,
zu verkünden, auch durch euer Leben.

Gott hat mit jedem und jeder von uns viel vor.

Darum dürfen wir immer wieder wie Petrus hören:
„Fürchte dich nicht!“
Darum dürfen wir darauf vertrauen,
dass Gott unsere Wege mitgeht.
Darum dürfen wir vertrauen,
dass wir in Gottes Liebe gehen.

Und wir dürfen wissen,
dass wir nicht allein sind auf diesem Weg.

Wie sagt es die Hl. Theresa von Avila:

„Öffne meine Sinne, unerwartete Begabungen von Menschen
zu entdecken, denen ich sie nicht zutraue.
Und verleihe mir die schöne Gabe, es ihnen auch zu sagen.“

 

Aus einem Lied von Dan Schutte
– Here I am, Lord – in deutscher Übersetzung:

Ich, der die Sterne und die Nacht erschaffen hat
Ich werde die Dunkelheit erhellen
Doch wer wird mein Licht zu ihnen bringen
Wen soll ich senden?

Hier bin ich, Herr
Meinst du mich, Herr?
In der Nacht habe ich deinen Ruf vernommen
Ich werde gehen, Herr
Wenn du mich leitest
Ich werde deine Liebe in meinem Herzen bewahren

von P. Klaus-Ludger Söbbeler OSB
zu Neh 8,2-4a.5-6.8-10; Lk 1,1-4;4,14-21

Aus der Unter-drückung in die Heraus-forderung

I.
Es bedarf schon eines sehr glücklichen Augenblicks, damit das gelingt, was dem Schriftgelehrten Esra gelungen ist: Da wird von der Kanzel das Gesetz Gottes verlesen und erklärt – und die Reaktion ist: Die Leute hören vom frühen Morgen bis zum Mittag wie gebannt zu (vgl. Neh 8,3). Noch mehr: „Alle Leute weinten, als sie das Gesetz hörten.“ (Neh 8,9) Ein ziemlicher Unterschied zur Wirkung einer heutigen Routinepredigt!

II.
Worin bestand die Besonderheit dieses Augenblicks, die eine solche Reaktion des Predigtpublikums ermöglichte? Es scheinen nicht die rednerischen Fähigkeiten oder der Unterhaltungswert Esras gewesen zu sein. – Es war vielmehr die Situation der Menschen: Historisch sind wir in der Zeit um 500 vor Christus. Die „babylonische Gefangenschaft“ war zu Ende. Offen und völlig unklar war jedoch, wie es weitergehen würde. Die Menschen fragen: Wie packen wir’s an? – Wir sind heraus aus der Unterdrückung und müssen herausfinden, wie wir mit der gewonnenen Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung umgehen.

Für die Zuhörer Esras ist Gott in einem solchen Augenblick kein selbstverständliches oder überflüssiges Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern die Chance, nach 40 Jahren Zwangsherrschaft unter den Babyloniern und ihrem menschenverachtenden Gottkönig neu anzufangen. Da war es eine aufrüttelnde Entdeckung, welchen Zugang zu Gott aufzeigte: Das „Gesetz Gottes“ ist kein Zwangsinstrument wie das gottkönigliche und menschenverachtende Reglement in Babylon sondern ein stimmiger Leitfaden fürs Leben, Gottes „Service“, „Gnade“ im Ursinn des Begriffs.

Gott als Lebenschance: Nicht auf dem Umweg über verstiegene  Gedankenkonstruktionen, sondern ganz direkt, alltäglich, als unmittelbar einleuchtende Hilfe für die handfesten Herausforderungen, die anstehen: Heraus-forderung statt Unter-drückung.

III.
Um erschlagen zu werden, wo wir zurzeit gefordert sind, braucht es nicht mehr als den Klick auf eine beliebige Nachrichtenseite.
Kann uns hier und jetzt das Gesetz Gottes eine Hilfe sein, – so sehr, dass wir von morgens bis mittags zuhören und uns am Ende die Tränen der Erleichterung kommen?

Wenn ich merke, dass das ehrlicherweise nicht der Fall ist, gibt es daraus zwei Schlussfolgerungen:
Entweder:
Gott ist für mich tatsächlich entbehrlich.
Oder:
Die Erwartungen, die mich umtreiben, und mit denen ich mich abmühe, sind falsch, weil sie eigentlich keine Heraus-forderungen, sondern Unter-drücker sind.

Denn es gibt Dinge, bei denen kann und will Gott in der Tat nicht helfen, weil er eben kein Unterdrücker, sondern ein Herausforderer ist: Um dafür zu sorgen, dass alles so weiterläuft wie immer, dazu braucht man Gott nicht; dafür reicht ein aufgeblasenes Menschlein wie der babylonische Gottkönig, dessen Vergötterung ich mir aufschwätzen lasse und einrede. Für so etwas lässt Gott sich schon deshalb nicht gebrauchen, weil das Gottesmissbrauch wäre, also ein Verstoß gegen das zweite Gebot: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.“ (Ex 20,7)

IV.
Wozu Gott gebraucht wird und wozu er sich gebrauchen lässt, das macht Jesus im Evangelium deutlich: „Gott hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze.“ (Lk 4,18f)

Jesus nennt vier Heraus-forderungen, durch die er dem Menschen hindurch helfen will, damit sie ihn nicht mehr unter-drücken: Armut – Gefangenschaft – Blindheit – Zerschlagenheit.

Dass von Gott tatsächlich eine gute Nachricht kommt, wird vermutlich nur der ernst nehmen können, der ernst nimmt, wie arm er eigentlich ist, – allen Versuchen geschickter Selbstdarstellung zum Trotz.

Dass Gott tatsächlich Entlassung der Gefangenen verkündet, wird vermutlich nur den erreichen, der merkt, wie sehr er eingesperrt ist in enge Denkmuster, aufgezwungene Verhaltensweisen und falsche Abhängigkeiten.

Dass Gott den Blinden das Augenlicht bringt, wird vermutlich nur da Erleuchtung bringen, wo jemand merkt, dass die Welt größer ist als der enge Tunnelblick, an den er sich gewöhnt hat.

Dass Gott die Zerschlagenen in Freiheit setzt, wird vermutlich nur den aufrichten, der sich nicht zu schade ist, zuzugestehen, wie Vieles in ihm und um ihn zerschlagen und kaputt ist.

V.
Diese Sichtweise ist zunächst mal harte Kost: Das – von mir selbst, nicht von „den anderen“ –  Überspielte, Verschwiegene, und Verdrängte tritt zutage und wird mich möglicherweise ziemlich erschrecken. Aber vermutlich ist dieser Schrecken heilsam, weil etwas beim Namen Genanntes sich nicht mehr verselbständigen und nicht mehr runterziehen wird, sondern angepackt werden kann. Diese Wandlung des Unter-drückenden in eine Heraus-forderung, das ist die Sendung Jesu.

Schon lange vor Jesus hatten der Priester Esra und seine Zuhörer mit Kopf und Herz das Geheimnis dieser Wandlung verstanden: In dem ebenso anspruchsvollen wie glücklichen Augenblick, in dem sie unter Tränen dem Gesetz Gottes lauschten, hatte sich für sie verwirklicht, womit die Lesung wie ein großer Schlussakkord abschloss: „Die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Neh 8,10)

 

von Br. Anno Schütte OSB

Die frohe Botschaft von der Geburt Jesu, die wir in dieser Nacht feiern, beginnt mit einem Befehl: „Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen.“ Der Kaiser im fernen Rom will sein gesamtes Volk erfassen um sich mehr Einnahmen zu verschaffen und Quirinius, sein Statthalter vor Ort, soll den Befehl umsetzen. Eine systemische Hierarchie kontrolliert ein riesiges Reich, den „ganzen Erdkreis“. Diese Herrschaft war räumlich und zeitlich unbegrenzt angelegt und abgesichert. Deshalb ließ sich der Kaiser auch als Gott verehren, das untermauerte den umfassenden Anspruch – nicht nur das Geld, auch die Seelen – und damit der ganze Mensch – sollte vereinnahmt werden.

In dieses Reich wird Jesus geboren; später wird es zerbrechen und untergehen. Das Reich Gottes, von dem der erwachsene Jesus künden wird, bleibt. Während der Kaiser von den Menschen nimmt, sie ausnimmt, schenkt Gott sich den Menschen ganz – im Kind. Mit der Geburt Jesu gründet Gott endgültig und für ewig sein Reich in dieser Welt. Gott kommt nicht als kaiserliches Kind in einem der Paläste Roms, sondern in einer Randprovinz des Reiches, unter einfachsten ärmlichen Bedingungen zur Welt und in die Welt. Gott wählt den Stall, das Unten – nicht den Palast, das Oben. — Die Kontraste zwischen diesen Reichen könnten kaum größer sein.

Gott gebiert sich in unsere Menschenwelt, Maria und Josef sind dafür erwählt. Sie sind offen für Gottes Wirken und willig-beweglich tun sie einfach, was getan werden muss: „So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt. (…) Sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“

Hirten werden die ersten Zeugen der Geburt Jesu. Hirten sind treusorgend präsent und setzen, wenn’s drauf ankommt, ihr ganzes Leben ein. Das wird Jesus später tun – endgültig und unüberbietbar vollendet im Tod am Kreuz. Schon am Anfang klingt an, was Jesus Zeit seines Lebens und umfassend nach seiner Auferstehung sein wird: Er ist der gute Hirt.

Die Hirten der Weihnacht lagern auf freiem Feld, keine äußeren und inneren Mauern engen sie ein, sie sind bewegliche Menschen. Das freie Feld versinnbildlicht ihre innere offene Seelenlandschaft: Sie sind empfänglich für Gottes umstrahlendes Licht und gerade ihnen erscheint der Engel, der die Freude der Geburt verkündet. Die soll dem ganzen Volk zuteilwerden – alle sind eingeladen. Auch das weist auf Zukunft hin: Nach Jesu Tod, am Ostermorgen wird wieder ein Engel eine große Freude, die Botschaft vom leeren Grab verkünden. Und der Auferstandene sendet seine Jüngerschaft – auch uns –  mit dieser frohen Botschaft zu allen Geschöpfen: Gott liebt alle – unzerstörbar – und wandelt Tod in Leben.

Die Hirten halten Nachtwache bei ihrer Herde – sie sind präsent in dunkler Zeit. Auch wir haben uns in einer Nacht versammelt – ihr Dunkel steht für unsere Welt mit ihrer schrecklichen Gewalt und ihren ungelösten Problemen. Gefühle von ohnmächtiger Lähmung und Depression können sich verbreiten und lähmen oder toben sich in aggressiven Lügen, Hass und noch größerer Gewalt aus.

Können wir neu anfangen? Was können wir tun?

Das aktive Wachsein der Hirten, ihre offene Aufmerksamkeit für die Botschaft der rettenden Geburt sind ein aufmunternder Appel an uns: Seid wachsam! — Sehen wir die Gefahren, die der Herde, uns – dem Volk, drohen? Ergreife ich verantwortungsvoll die neuen Möglichkeiten, die sich mir anbieten? Die Hirten können nur gemeinsam wirksam ihre Herde schützen. Engagiere ich mich für das Gemeinwohl? Höre ich hin und zu? Teile ich – und teile ich mich mit? Bin ich beweglich für gute Kompromisse um Lösungen zu finden? Widerspreche und widerstehe ich bösen Gedanken und Machenschaften? Leiten und begleiten wir uns auf „grüne Auen“, dorthin, wo das Leben für alle kraftvoll wachsen kann?

Mit der Geburt Jesu schenkt Gott sich uns in einem Kind. Kinder sind in vor allem lernende Menschen, sie wollen die Welt und das Leben erkunden, erwachsen werden. Sie leben nicht in der Perspektive „Das kann ich nicht!“ oder „Das geht nicht!“, sondern in einer Haltung offener Entwicklung – sie sehen die Möglichkeiten. Ihr Lebensmotto lautet: „Das kann ich noch nicht!“ und: „Das probiere ich aus und irgendwann kann ich das!“ Es will dazulernen, seinen Spiel-Raum und Horizont in die Welt hinein weiten.

Könnte diese kindliche Haltung ein Weg zur Lösung der scheinbar unlösbaren Probleme und Konflikte in der Welt sein? Jesus zumindest wird später sagen: „Lasst die Kinder zu mir kommen, denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.“

Wir alle sind eingeladen, mit den Hirten das göttliche Kind zu suchen, das göttliche Kind in jedem von uns. Im Kind offenbart sich Gott besonders nah erfahrbar. Ein Kind lässt sich lieben und schöpft daraus Wachstumskraft. Dazu sind wir alle eingeladen, denn Gott kann nicht anders als lieben – mitten in uns hinein, mitten durch uns in diese Welt hinein – auch wenn ich es gerade nicht spüre. Vielleicht suchen wir noch mit irrenden Kinderschritten, aus ihnen kann ein schwungvoll-weiter Lebensweg werden. Gott traut uns das zu und wirbt ständig um uns.

Bin ich bereit, mich als Gotteskind lieben, auf die Welt hin gebären zu lassen, zur Welt zu kommen? Dann könnte Christus, sein Evangelium, auch durch mich, durch jeden von uns zur Welt kommen: Wunderbar einmalig, überraschend lebendig, genuss- und kraftvoll und wenn es sein muss auch anarchisch frech und durch fairen Streit hindurch. Denn wir alle sind – auch als Anfänger – geliebte Christ-Kinder, an denen Gott sein Wohlgefallen hat.

von P. Abraham Fischer OSB

Seit ich vor einem Jahr  Bahn-Pendler zwischen Hannover und Meschede geworden bin, ist das Warten zu einem ständigen Thema geworden und ich konnte so meine Beobachtungen über mich und andere machen.

Da gibt es geduldiges Warten. Man weiß, dass etwas kommt und vertreibt sich behaglich die Zeit bis zum Eintreffen des Ereignisses.

Dann gibt es das ungeduldige Warten. Wir fiebern auf etwas zu. Können es eben gar nicht abwarten. Das kann mit einem freudigen Ereignis zusammenhängen. Feste und Geburtstage. Situationen, die mit einem Beschenkt-Werden zusammenhängen, Pakete und anderes erwartet man ungeduldig.

Es gibt das bange Warten. Auf die Diagnose nach einer wichtigen Untersuchung warten wir ungeduldig und verängstigt. Manchmal bringt das Erlösung, mitunter bestätigt sich das Unheil.

Es gibt das wütende Warten. Jemand kommt zu spät – am besten jemand, der immer zu spät kommt – und wir finden uns in einer Situation der Unfreiheit vor.

Es gibt auch das im wahrsten Sinn des Wortes gespannte Warten, wie wir es bei den Sprintern in den Blöcken vor dem Startschuss beobachten können. Alles ist angespannt, um sofort loszurennen.

Obwohl sich die emotionalen Stimmungen der verschiedenen Situationen sehr unterscheiden, haben sie eines gemeinsam. Beim Warten geht es um eine Tatsache, die sich der Zukunft abspielen wird, die sich aber angekündigt hat. Warten erfüllt sich. Dann löst sich eine Spannung auf. Warten fällt uns schwer, weil wir es als eine Art der Unfreiheit wahrnehmen. Wir können nichts tun, sind Umständen ausgeliefert, die wir nicht wirklich beeinflussen können.

Warten hat auch etwas mit Zeit zu tun. Manchmal kennen wir den Zeitpunkt der Erfüllung, anstrengender ist aber ein Warten sozusagen ohne Termin. Ob das Stunden oder Tagezählen das Warten erleichtert, ist eine je persönliche Sache. Dafür haben wir ja zum Beispiel Adventskalender, um die 24 Tage auf Weihnachten hin abzählen zu können und uns den Weg und die Zeit zu versüßen.

Wir beginnen den Advent. Eine Zeit spirituellen Wartens. Es stellt sich natürlich die Frage, was hier das Warteziel ist. Das Wort sagt schon einiges: Adveniere – ankommen. Da kommt etwas, da kommt jemand an. Die Zeitspanne ist ebenfalls genau bestimmbar. Das Erwartete trifft am 24.12. nachts ein: Weihnachten. Wenig spannend für uns Erwachsene – Kinder sind da anders unterwegs. Für sie ist der Advent ein angespanntes Warten. Bis endlich Weihnachten ist und der Baum glitzert.

Aber nur gewohnheitlicher Advent? Reicht das? Jedes Jahr dieselbe Leier? Daher möchte einmal darüber nachdenken, auf was wir im Advent überhaupt warten? Und tiefer was ist Warten im Advent?

Vielleicht aber ist es ja so, dass es gar nicht um Weihnachten als Datum geht, sondern dass der Advent uns eine andere, besondere Form des Wartens nahebringen will.

Adventliches Warten ist bezogen auf etwas, das schon längst da ist, aber noch nicht sichtbar werden konnte. Wir üben im Advent eine völlig neue Art des Wartens. Wir wissen, dass etwas kommen wird, UND: das ist der Unterschied: Es wurde angekündigt, dass das, was kommen wird, schon längst da ist, aber eben auch noch nicht.

So wie in einem Samenkorn die ganze Pflanze schon da ist und in jeder Keimzelle der ganze Mensch programmiert ist, so ist weder die Pflanze noch der Mensch sinnlich erfahrbar, Wohl aber liegen alle Informationen vor. Wir sehen den Bauplan des Hauses und sehen genau, was da kommen wird, und dennoch stehen wir trotzdem quasi im Regen.

Architekten sind geübt im Bauplanlesen. Daher können sie sich das Haus gut vorstellen. Dazu haben sie viele Zeichnungen angeschaut in die spezielle Sprache geübt, die man verstehen muss, um einen Plan zu lesen und die darin enthaltenen Informationen zu verstehen.

Wenn wir nun sagen, wir könnten uns die Ankunft des Christus nicht vorstellen, dann sagen wir im Grunde nur, dass wir die Sprache, die diese Ankunft beschreibt, nicht entschlüsseln konnten.

Und genau das üben wir im Advent. Wir lernen die Sprache Gottes in unserer Welt. Wir hören die alten Geschichten immer wieder und vertiefen die Grammatik und die Vokabeln, mit denen die Ankunft Gottes beschrieben wird. Und jedes Jahr – daher die sinnvolle Wiederholung der liturgischen Zeiten – können wir ein wenig mehr verstehen, wie das mit der Ankunft Gottes vor sich geht. Was es bedeutet, dass Gott uns Menschen so nahekommt, dass wir ihn essen und schmecken und riechen und tasten und hören und spüren können. Was es bedeutet, dass er unter uns Menschen gewohnt hat und dass er das immer wieder tut: Emmanuel – unser Gott mit und unter uns.

Viele Menschen meinen, Gott wäre fern und weit weg. Das ist eine Wahrnehmung. Oder ist es vielleicht umgedreht auch so, dass wir Menschen weit weg von Gott sind, weil wir die Grammatik seines Daseins nicht mehr lesen und entschlüsseln können? Dann würde Advent nicht nur bedeuten, dass Gott auf der Erde, dass Gott bei den Menschen, dass Gott bei mir und bei Dir ankommt, sondern, dass auch wir bei uns selbst, in unserem Herzen und zugleich bei Gott ankommen. Es muss keinen Widerspruch zwischen Gott und Mensch geben. Dann spüren und schmecken wir nämlich, dass alle Menschen sehnsüchtig warten, dass wir uns selber wahrnehmen als Menschen, die suchen und die mit allen Sinnen wartend ausgestreckt sind. Warten ist eine Haltung prinzipieller Offenheit.

Doch weiter im Bild der Sprache:

Gott hat uns geschaffen und genauso gewollt, wie wir jetzt sind, ohne Einschränkung und Bedingung. Wenn wir die Sprache Gottes lernen wollen, dann beginnen wir am besten damit, die schwierigste und zugleich leichteste erste Vokabel seines Daseins zu üben: Das Wort „Ja“. Ja sagen zur Welt, Ja sagen zur Schöpfung, Ja sagen zum Menschen, Ja sagen zu sich selbst und – so schmerzhaft das auch zu sein scheint- Ja-Sagen zum Schicksal.

Ich meine hier nicht das belanglose Ja-und-Amen-Sagen, sondern hier strahlt die dem Wort „Ja“ innewohnende und die sich nur aus ihm entfaltende Grundkraft des Daseins auf: die Liebe.

Deshalb kann es eine Botschaft des Adventes sein: Wo wir lieben spricht Gott. Wo wir lieben, da erscheint er in der Welt. Wo wir lieben, da verstehen endlich wir die Ur-Sprache Gottes.

Aber nicht nur das. Wo immer Liebe geschieht, egal wie heroisch, wie alltäglich, wie scheiternd, wie erfüllend. Wo immer auch Liebe Wirklichkeit wird, da sprechen endliche Menschen die Sprache Gottes

…. Und da hat der Advent sein Ziel: Gott kommt an.

Glauben wir das und üben wir das im Advent immer wieder.

Jetzt hier gleich und in der Ewigkeit. Amen.

von P. Julian M. Schaumlöffel OSB

„Ich bin der König der Welt!“

Wer von ihnen, liebe Schwestern und Brüder, kann sich spontan an diesen Ausruf erinnern?

„Ich bin der König der Welt“ rief der frisch verliebte Leonardo de Caprio alias Jack Dawson im Filmklassiker „Titanic“ von 1997. Eine fast schon ikonisch gewordene Szene: Ganz vorne am Bug, der vordersten Spitze des Luxusliners stehend, die gewaltigen Wellen des Atlantik mit bis dahin nicht gekannter Geschwindigkeit durchbrechend, den Wind und die Gischt ins Gesicht peitschend, umklammert von seiner geliebten Rose und mit weit ausgestreckten Armen ruft Jack aus seinem tiefsten Innern heraus den so berühmt gewordenen Satz „Ich bin der König der Welt“. Dieses berauschende Gefühl von Glück und Macht, der so kraftvolle Hoffnungsschrei des Jack Dawson sollte nur wenige Stunden später für immer in den kalten Fluten des Atlantiks verstummen.

„Ich bin der König der Welt“

Auch heute hören wir diesen Satz fast täglich, vielleicht mit etwas anderen Worten, aber doch mit demselben Inhalt. Wir müssen nur auf das Weltgeschehen der letzten Wochen schauen, die Nachrichten verfolgen und hinhören. Da gibt es machtbesessene Herrscher hier wir dort, in Ost und West, die ihr Königtum und ihr Herrschaftsgebiet ausbauen wollen, ihre Macht mit Waffen demonstrieren, Gegner einfach ausschalten oder der Lüge bezichtigen, eigene Lügen verbreiten und sich ihren Herrscherstab aus einflussreichen und publikumswirksamen Marionetten aufbauen. Unliebsame Gefährten werden dabei eliminiert und Demokratien durch Putschversuche ins Wanken gebracht. Mit den Augen des Verstandes betrachtet sind es armselige Gestalten, wahnwitzige Irre, die ganz vorne am Bug des Schiffes stehen, berauscht von den Möglichkeiten ihrer Macht auf das Meer hinausschauen, den Eisberg des Untergangs noch nicht ahnend ihr „Ich bin der der König der Welt“ den vielen unter ihren Machtgelüsten leidenden Menschen entgegenschleudern.

„Ich bin wahrhaft ein König, doch mein Königtum ist nicht von dieser Welt“

Der König, den wir heute feiern, ist wahrhaft „Der König der Welt“ und doch ist sein Königtum gerade nicht in dieser Welt begründet, eben nicht von dieser Welt. Das nun unterscheidet ihn so fundamental von all den anderen Königen unserer Tage und jenen, die es gerne wären. Der Christkönig, dem unsere Abteikirche und unser Kloster geweiht sind, herrscht mit den Waffen der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe.

Daniel sieht in seiner nächtlichen Vision einen Menschensohn kommen, also einen, der wie ein Mensch aussieht, aber nicht von unten, sondern mit den Wolken des Himmels kommt, also zugleich das Göttliche in sich trägt. Diesem Menschensohn wurden Herrschaft, Würde und Königtum verliehen. Ihm dienen alle Völker, Nationen und Sprachen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.

„Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“

Schon beim Propheten Daniel klingt an, was diesen König besonders macht. Er ist gerade kein selbsternannter Herrscher, der sich seine Macht nehmen und dann ausbauen muss. Ihm, so sagt es Daniel, wurden Herrschaft, Würde und Königtum verliehen. Sein Königtum ist ein Additum, eine Gabe, eine Aufgabe, göttliche Aufgabe. Ein derart verstandenes Königtum, ein solcher König verleiht sich nicht selbst den Glanz, sondern glänzt von einer anderen Quelle her, auf die er stets bezogen bleibt.

Uns bekannte weltliche Herrscher scheiden damit weitgehend aus. Vielleicht wurde ein solch ursprüngliches Verständnis von Königtum letztmalig bei der nach ihrem Tod für ihre lebenslange Disziplin bewunderten Jahrhundertkönigin Elisabeth II. spürbar, denn sie verstand sich wirklich noch als Königin von Gottes Gnaden. Die Medien bemühten diesen Begriff mehrfach im Zusammenhang mit ihrer Regentschaft. Mich hat das sehr berührt. Ein auf Zeit verliehenes Amt von Gottes Gnaden. In diesem Verständnis begnadet Gott einen Menschen mit einem Können, beruft ihn dann in eine Verantwortung, von der allein ER wieder entbinden kann. Eine solche Berufung verleiht dem Berufenen Kraft und Stärke, lässt einen Menschen durch die Treue einer an ihn ergangenen Berufung glänzen. Wir kennen solche begnadeten Menschen. So betrachtet gibt es auch in unseren Tagen noch unzählige Königinnen und Könige, die in Würde eine Krone tragen – sichtbar nur für den, der sie zu sehen versteht und ihren Glanz zu deuten weiß.

„Mein Königtum ist nicht von dieser Welt!“ hallt die Antwort Jesu an Pilatus im heutigen Evangelium. „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“

Jeder, der aus der Wahrheit ist. Warum spricht Jesus gerade hier in der Verhandlung mit Pilatus, in der es um sein Schicksal geht, über Wahrheit? Was hat Wahrheit mit seinem Königtum zu tun? Pilatus ist darüber ebenfalls verwundert. In Vers 38, der die heute gehörte Perikope unmittelbar fortsetzt, folgt dann auch die bekannte Pilatusfrage:

„Was ist Wahrheit?“

Vermutlich war die Lüge schon damals genauso gesellschaftsfähig wie heute, um die eigenen Interessen durchzusetzen, Tatsachen zu vertuschen oder Dinge unter den Teppich zu kehren. Damals wir heute werden sich Herrscher dieser Funktion der Lüge bedient haben. Will Jesus dagegen vorgehen? Für welche Wahrheit will er Zeugnis ablegen?

Pilatus fragt Jesus nach seiner Identität als „König der Juden“. Wer wessen König ist, deckt Jesus mit seiner Gegenfrage auf: „Sagst du das von dir aus, oder haben es dir andere über mich gesagt?“

Sich hinter anderen verstecken ist gefährlich, denn dann verschwindet die Frage nach der Wahrheit hinter dem Interesse und der Berechnung. Wenn Menschen die Wahrheit verbiegen, je nachdem ob sie ihnen nützt, beginnen Gewalt, Terror und Missbrauch, sind die Demokratien unserer Tage in Gefahr.

Jesu Königtum, in dem sich die Weise offenbart, wie Gottes Königreich wirksam werden will, basiert auf uneingeschränkter Wahrheit und einem Hören auf SEINE Stimme.

Als Kirche, liebe Schwestern und Brüder, müssen wir im Grunde hinter die Erfahrung einer Gemeinschaft der Glaubenden zurück, um ganz persönlich, aus der Einsamkeit des unter dem Kreuz Glaubenden frei zu werden für die Wahrheit. Dort, unter dem Kreuz, wird der Glanz eines wahren und unvergänglichen Königtums sichtbar: Die sich verschenkende Liebe.

Liebe hat auch dem eingangs erwähnten Jack Dawson die Kraft und den Mut gegeben zu rufen: „Ich bin der König der Welt“.

Die Liebe des Christkönig, die Liebe unter dem Kreuz aber ist von ganz anderer Qualität…

von P. Maurus Runge OSB

„Welches Gebot ist das erste von allen?“ Die Frage des Schriftgelehrten an Jesus ist durchaus berechtigt – und bleibend aktuell. Welches Gebot in dieser Vielzahl an Geboten der Tora ist die innerste Mitte, an der ich mich orientieren kann? Welches Gebot gibt den anderen Sinn? Woran soll ich mich halten in dieser Vielzahl von Worten?
Und Jesus antwortet aus der Mitte der jüdischen Tradition heraus, mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis (Schema Israel), das jeder gläubige Jude täglich betet: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“
Scheinbar ganz einfach – und doch beginnen die Fragen und Missverständnisse hier erst. Das zeigt sich deutlich, als vor einigen Monaten der Spitzenkandidat der AfD in Brandenburg, der sich selbst als katholisch bezeichnet, gefragt wurde, was für ihn Nächstenliebe bedeute. Seine Antwort: „Da ich katholisch bin, bedeutet Nächstenliebe für mich, sich um die Angehörigen des eigenen Volkes zu kümmern.“ Das Konzept der Nächstenliebe wird also schamlos missbraucht für das völkisch-nationalistische Programm dieser Partei, missbraucht dazu, Fremde auszuschließen, auszugrenzen, letztlich abzuschieben. Nächstenliebe als Ausschließungsprogramm. Gut, dass Erzbischof Koch, sein zuständiger Bischof, dieser Aussage sofort widersprochen hat und klarstellte, dass christliche Nächstenliebe auch dem gelte, „der eine andere Meinung, eine andere Überzeugung, einen anderen Pass hat. Nächstenliebe kennt keine Fremden.“
Anders ausgedrückt: Auch der Fremde wird mir zum Nächsten, „denn er ist wie du“. So übersetzt Martin Buber das „wie dich selbst“: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Er ist Mensch wie du – mit allen Stärken und Schwächen, mit allen Gaben und Talenten.
Übrigens sagt das auch schon die jüdische Tradition, die für uns Christen ebenfalls Heilige Schrift ist. Im Buch Leviticus heißt es: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (vgl. Lev 19,34) Und in der Parallelstelle zu unserem heutigen Evangelium erzählt Lukas auf die Frage des Schriftgelehrten, wer denn sein Nächster sei, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das schon hier die eigenen Stammesgrenzen sprengt und im Samariter, der dem Verletzten zum Nächsten wird, die Nächstenliebe sozusagen universalisiert.
Die Weiterführung der markinischen Episode bei Lukas zeigt etwas Wichtiges: Liebe ist nicht etwas Abstraktes, keine Theorie, die in schönen Worten beschreibt, was es mit der Liebe auf sich hat. Nein, Liebe ist immer konkret, sie drängt mich zur oft unspektakulären Tat, spornt mich an, dem anderen zu helfen, macht sich die Hände schmutzig und verbindet Wunden. Eine so verstandene Nächstenliebe hat dann wiederum mit Gott zu tun, denn in dem Menschen, der mich jetzt gerade braucht, der mir zum Nächsten wird, begegnet mir Gott, wird Gott aufs Neue Mensch. Menschwerdung setzt sich bis heute fort.
Einer, der diese Liebe ganz konkret gelebt hat, ist der in der vergangenen Woche verstorbene Altbischof von Limburg, Franz Kamphaus. „Den Armen das Evangelium verkünden“ – sein bischöflicher Wahlspruch war für ihn keine leere Floskel, sondern ist in seinem Leben konkret geworden: in seiner Einfachheit und Bescheidenheit. In seinem kompromisslosen Eintreten für die Armen von heute – da hat er auch keine Konflikte gescheut, wenn er etwas als richtig erkannt hat, wie es sein Einsatz für einen Verbleib der Kirche in der staatlichen Schwangerschaftsberatung zeigte. Gerade so wollte er dem Leben dienen auf allen Ebenen. Und seine langjährige Aufgabe als Weltkirchenbischof hat ihn über den Tellerrand des eigenen Landes schauen lassen, damit die Nächstenliebe eben nicht eng verstanden wird, sondern sich ausweitet auf alle Menschen. Nach seiner Emeritierung als Bischof hat er als einfacher Mensch und Seelsorger unter geistig behinderten Menschen gelebt. Dort ist er auch gestorben.
„Mach‘s wie Gott – werde Mensch!“ Der Titel eines seiner Bücher kann uns in dieser Woche Richtschnur sein in unserem Bemühen, Gott und den Nächsten – auch den Fernsten, der mir zum Nächsten werden kann – zu lieben. Es in unserer Menschwerdung Gott gleich zu tun und es mit der Liebe einfach mal zu versuchen. Oder um es mit einem anderen Wort von Franz Kamphaus zu sagen: „Den Diktatoren gleitet der Erdball aus der Hand, und er zerbricht – die Liebe hält ihn zusammen.“

von P. Marian Reke OSB

Es knospt
unter den Blättern
das nennen sie Herbst. 

Hilde Domin

Im Frühherbst gibt es Tage, die uns mit einem unverhofft heiteren Leuchten beschenken. Noch vor einer Woche machte der Gingko-Baum an der Klosterpforte vor dem strahlend blauen Himmel die Rede vom goldenen Oktober unmittelbar anschaulich. Das in der Natur anhebende jahreszeitliche Sterben war zumindest für Stunden zu glühendem Leben gelichtet. Doch wer wollte sich davon täuschen lassen?! Nur zu gut wissen wir, wie bald schon die steigenden Nebel alles rundum verdüstern. Die lautlos fallenden Blätter im Park erinnern als wortloser Kommentar zum andauernden Lärm der Katastrophennachrichten in den Medien, was scheint’s die Stunde geschlagen hat.

Die sprichwörtliche Novemberstimmung nimmt derzeit für meine Wahrnehmung eine apokalyptische Färbung an! Vielen geht sie ans Gemüt.

Da erinnert uns gleich zu Beginn des dunklen Monats die Liturgie der Kirche – sozusagen als Gegenanzeige – an die Vision einer neuen Welt, an die Vision vom Menschen im Glanz seiner Ganzheit, an die Vision vom Einssein der Menschheit und der gesamten Schöpfung, an die Vision vom Heil, von Heilung und Heiligung. Wir feiern Allerheiligen. Wir feiern die Berufung und die Befähigung aller Menschen, einer jeden, eines jeden von uns, sich von all den Todesschatten ringsum nicht verwirren zu lassen, sondern den Schleier herbstlichen Trübsinns, der sich über die Dinge breitet, zu durchschauen. Mit den Augen eines vertrauensvollen Herzens können und dürfen wir entdecken, dass – um im Bild der Natur zu bleiben – die Blätter nur deshalb fallen, weil das Wachstum des Baumes bereits kleinste Knospen treibt, obschon es noch einen Winter lang Kraft zu neuem Aufbrechen sammeln muss.

Immer wenn eine bisher gültige und deshalb in sich bewegliche Gestalt des Lebens kraftlos wird und schlaff oder in Enge erstarrt, dann gilt es zu erkennen und mehr noch zu erspüren, dass das Leben selbst sich neu und womöglich ganz anders ausdrücken will. Dann gilt es zu lassen, sich im Lassen zu üben. Lass es sein – das Leben, wie es ist oder wie es eben geschieht. „Let it be“ – sangen in unseren jungen Jahren die Beatles, und wir haben unbeschwerten Herzens mitgesungen, weil das Leben mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten noch vor uns lag. Let it be! Im Alter kommt uns das nicht mehr so leicht über die Lippen, wenn wir die Vergänglichkeit immer bedrängender wahrnehmen – unsere Endlichkeit.

Man ahnt: bald werden wir uns lassen, loslassen müssen. Die üblichen Vorstellungen, die wir damit verbinden, können uns ängstigen, die Vorstellung: was losgelassen wird, fallt, fällt hin und dahin.

Allmählicher Verfall – diese uns zugewandte Seite des Alterns könnte jedoch eine Kehrseite haben. Unsere je eigene irdische Gestalt vermag anscheinend das Leben nicht mehr zu fassen und zu halten, ist für das Leben in seiner Fülle nicht weit und offen genug. Ich ahne durch alle Ängste und Zweifel, durch Auflehnung und Trotz, durch alle Trauer hindurch, dass auch das Sterben ein Ausdruck des einen Lebens ist. „Es knospt unter den Blättern …“ – deshalb welken und fallen sie. Ein ungewohnter Gedanke, ich weiß, ein Trostgedanke – und im Glauben müsste er keine bloße Vertröstung bleiben.

Früher trugen wir in Königsmünster am Vorabend von Allerheiligen zur Vigil das Reliquiar aus der Krypta zur Verehrung in den Mönchschor der Abteikirche – ein Ritual, mit dem ich auch meine Schwierigkeiten hatte. Irgendwann aber ging mir durch den Sinn: diese Gebeine kanonisierter Heiliger sind wie die Leichen in den Särgen oder die Asche in der Urne buchstäblich „Re-liquien“, das Zurückgelassene der Gestalt der einen Lebensfülle, wie sie sich in jedem, in je-dem(!) unverwechselbaren und unwiederholbaren Menschen ausgeprägt und gezeigt hat. Der Glaube bezeugt, dass dieser einzigartige schöpferische Ausdruck des Lebens zu jener unerschöpflichen Fülle gehört, in der jeder Mensch ewig aufgehoben ist. Seine zurückgelassene, zerfallende Gestalt – die Reliquien – ehren wir wie die Gräber also zu Recht.

Reliquienkult – so verstanden und in diskreter Weise geübt – kann sinnvoll sein, ein Zeichen menschlicher Würde. Doch verlangt dieser Kult, damit er nicht zu kurz gerät, nach einer entsprechenden Kultur, nach der Kultur des Leibes und des leibhaftigen Daseins überhaupt – aus Ehrfurcht vor der lebendigen Gestalt des Lebens. Gerade wenn wir Reliquien in kostbaren Schmuck fassen und bisweilen in einem goldenen Schrein bergen, der einem edlen Haus gleicht, müssen wir uns umso mehr darum kümmern, dass jeder Mensch zu Lebzeiten seinen Leib umsorgen und in ihm auf dieser Erde ein Haus bewohnen kann. Das gilt für die alltägliche Sorge um uns selbst und umeinander – bis hin zur Hospiz- und Palliativpflege.

Ich weiß, dass wir mit unserem Totenkult immer auch zu spät kommen, weil uns die Lebenskultur – zumal im Blick auf andere, gerade auch auf uns nahe Menschen – nie ganz gelingt. Vielleicht liegt genau darin ein Grund aller Trauer. Dennoch: es gilt, sich darin nicht resignativ zu verfangen, sondern Tritt zu fassen, um in großen und kleinen Alltagsschritten gegenwärtiger Lebenskultur einzuholen, was in den Ritualen des Reliquienkultes einst in festlichem Ernst begangen wurde und heutzutage mehr oder weniger bloß Folklore ist.

Letztendlich kommt es darauf an, in das CREDO des Allerheiligenfestes einzustimmen. Es kündet vom Vertrauen zum Gott des Lebens, das uns alle gewiss sein lassen kann:

Ich bin eine Gestalt der unerschöpflich schöpferischen Liebe – unverwechselbar und unwiederholbar. Ich bin diese einzigartige und doch mit allen und allem verbundene menschliche Gestalt des einen Lebens: erfahrbar, hörbar und sichtbar für den mir zugemessenen Zeit-Raum des Daseins und zugleich verborgen und geborgen im Geheimnis der Ewigkeit, aus der ich stamme, in die ich zurückkehre, die unser aller Heimat ist.