Vielleicht kennen Sie das: Sie stehen an einem Strand und blicken auf die Weite des Horizontes, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Das Auge findet keinen Halt. Alles scheint Weite zu sein. Der Himmel erhebt sich, das Meer erstreckt sich.
Genauso kann man auf einem Berggipfel fühlen. Der Blick schweift in die Weite und es scheint keine Grenzen zu geben. Ein Gefühl von Unbegrenztheit. Die Details unten im Tal lösen sich auf und wir fühlen uns fern der Welt in einer anderen Dimension. Das Leben erscheint offen und frei.
„Und er sah den Himmel offen.“
Das ist ein starkes Wort über den heutigen Heiligen. Bedenken wir aber auch den Zusammenhang, in den dieses Wort gestellt ist:
Stephanus ist einer der Diakone der jungen Kirche. Die Apostel erkennen, dass das Werk Jesu wächst und dass sie Aufgaben mit anderen Berufenen teilen müssen. Und so wählen sie Menschen aus, die das vermögen und „geistesgegenwärtig“ sind: „Voll Gnade und Kraft“ – wie es in der Apostelgeschichte heißt. Das Werk Jesu bekommt also eine Zukunft, denn die Zahl der Getauften wächst und daher vertrauen die Apostel ihre Sendung weiteren Gemeindemitgliedern an. Das sind den Bibeltexten zufolge übrigens Männer und Frauen. Daher ist es gut, dass die Kirche in heutiger Zeit immer wieder den Ruf zu hören bekommt, dass es Diakoninnen gegeben hat und auch heute wieder geben könnte.
Die frühen Christen haben – wie wir heute auch – um die Zukunft der Kirche gerungen und sie haben sich verändert und neuen Situationen angepasst. Dabei ging es darum, wie man die Menschen erreichen kann und wie die Botschaft auf fruchtbare Herzensböden fallen kann. Mit der Aussendung geistesbegabter Menschen oder wie wir das heute nennen – mit der Weihe der Diakonen und Diakoninnen – entwickelt das Christentum seine Wirkung über die Grenzen Palästinas hinaus.
Obwohl diese Fragen in der Kirche diskutiert werden, gehe ich davon aus, dass wir alle die Weihe von Frauen nicht mehr erleben werden. Aber muss uns das hindern, dass das System Kirche zur Entwicklung mehr als Generationen braucht?
Es bleibt eine Herausforderung, auf einem Berg in die Weite zu sehen und alle Details einmal zu vernachlässigen und nur die Weite und Größe, die Gnade und Freude des Gottesreiches zu sehen.
Stephanus war anscheinend jemand, der weiter blicken konnte. Er sah den Himmel offen. Was kann das bedeuten? Er blickte über die Beschränkungen der frühen Kirche hinaus und entwickelte das Christentum weiter. Nicht umsonst ist seine Geschichte und sogar sein Schicksal mit der des Saulus von Tarsos verknüpft. Der war zur Lebenszeit des Stephanus ein echter jüdischer Reaktionär, der neue Gedanken und andersdenkende Menschen verfolgte. Eines der Opfer seiner und anderer Eiferer der Gewalt war Stephanus.
Es hat wenig Zweck, über die Zustände um uns herum fortwährend nur zu klagen. Zielführender wäre es, wenn wir ändern, was wir selbst zu ändern vermögen. Stellen wir uns also die Frage, wo wir eng und ängstlich reagieren, wo wir Neues nicht sehen können oder wollen, wo wir anstehende Veränderungen verdrängen oder gar andere anfeinden, die genau das zulassen. Als endliche und sterbliche Menschen haben wir schnell die Tendenz, Veränderungen zu meiden, weil wir uns zu Recht nach Sicherheit und Geborgenheit sehnen. Aber manchmal kommt der Augenblick, in dem uns klar werden kann, dass es schmerzhafter ist, in der Knospe zu bleiben als das Blühen zu wagen.
Das scheint ja das Umfeld des Stephanus gegen ihn am meisten aufgebracht zu haben, dass er anstehende Veränderungen erkannte und es auch wagte, sie zu äußern und zu leben. Er ist ein visionärer Mensch, der nicht im Klein-Klein der Wirklichkeit und des Alltags aufgeht, sondern er ist einer, der den Himmel offen sieht. In unserer Sprache scheint er ein Optimist zu sein, einer, der auf das Gute sieht und aus diesem Blick der Liebe auch das Endliche bewältigen und annehmen kann.
Für Stephanus wird diese Haltung ernst und auch in der letzten Herausforderung bleibt er sich treu: Im Tode blickt er durch die Schmerzen der schrecklichen Hinrichtung hindurch und sieht, was er immer gesehen hat: Der Himmel ist offen und wir sind dort erwartet. Wenn er für seine Feinde betet, dann zitiert er nicht nur die Worte Jesu am Kreuz, sondern er macht ernst mit seiner Lebenshaltung.
Darin kann der heilige Diakon uns und auch unserer derzeit so endlichen Kirche ein Vorbild sein. Er öffnet sich auch inmitten aller Vergänglichkeit dem Ewigen. Er ist nicht etwa ein blauäugiger Optimist, den man verlachen könnte. Er macht ernst mit seiner Haltung. Die Juden, die das Alte bewahren wollten, die die Steine auf ihn warfen, sie sind vergessen. Der Heilige ist noch heute Erzähler und Zeuge des Himmels.
P. Abraham Fischer OSB