Was macht den Apostel Johannes, dem wir nach der frühkirchlichen Kirche das 4. Evangelium verdanken, zu einer Gestalt der Hoffnung?

Hat das mit seinem leidenschaftlichen Temperament zu tun? Schließlich wurden er und sein Bruder Jakobus „Donnersöhne“ genannt. Er neigte zu radikalen Lösungen: Als Jesus und seine Jünger in einem ungastlichen Dorf auf Ablehnung stießen, reagierte Johannes ziemlich rabiat: „Sollen wir ein vernichtendes Feuer von oben auf das Dorf herabfallen lassen?“ Ob er das tatsächlich ernsthaft wollte oder nur seinem Ärger Luft machen wollte, weiß ich nicht. Aber offensichtlich hatte er Jesus und seine Botschaft noch nicht richtig verstanden.

Aber wie auch immer, er wurde von Jesus mit auf den Berg genommen, auf dem dieser unfassbar ganz vom Licht erfüllt wurde. Er gehörte zu den drei Jüngern, die Jesus gebeten hatte, ihn nach dem Abendmahl in den Ölgarten zu begleiten und in seiner tiefsten Not, seinem inneren Ringen, wach und teilnahmevoll anwesend zu sein. Er gehörte zwar zum engeren Apostelkreis, aber war auch kein Überapostel. Und trotz seiner menschlichen Schwächen hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. Diese war zeitweise nach dem Tod Jesu von der Angst und Traurigkeit überspült worden, konnte aber wieder aufgeweckt werden. Er schenkte der Botschaft Vertrauen, dass Jesus auferweckt worden war, und gehörte zu jenen, denen der Auferstandene erschienen ist. Er war Zeuge geworden und bezeugte die auferstandene Wahrheit. Er hat die Hoffnung nicht selbst erzeugt, sondern sich überzeugen lassen, dass der Gekreuzigte lebte.

Johannes ist eine Gestalt jener Hoffnung, die auch zuletzt nicht stirbt. Er hatte Jesus sein Vertrauen geschenkt, und das, was er an ihm wahrgenommen hatte, ging so tief in seine Seele ein, dass auch in der Stunde der Enttäuschung noch die verschüttete Bereitschaft lebte, seiner ursprünglichen Hoffnung treu zu bleiben und sie auferstehen zu lassen.

Die heutige Lesung aus dem 1. Johannesbrief macht deutlich, was das Fundament des christlichen Glaubens ist:

„Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit eigenen Augen gesehen und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Labens, das verkünden wir auch euch, damit ihr Gemeinschaft mit uns habt.“

P. Johannes Sauerwald OSB

Vielleicht kennen Sie das: Sie stehen an einem Strand und blicken auf die Weite des Horizontes, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Das Auge findet keinen Halt. Alles scheint Weite zu sein. Der Himmel erhebt sich, das Meer erstreckt sich.

Genauso kann man auf einem Berggipfel fühlen. Der Blick schweift in die Weite und es scheint keine Grenzen zu geben. Ein Gefühl von Unbegrenztheit. Die Details unten im Tal lösen sich auf und wir fühlen uns fern der Welt in einer anderen Dimension. Das Leben erscheint offen und frei.

„Und er sah den Himmel offen.“

Das ist ein starkes Wort über den heutigen Heiligen. Bedenken wir aber auch den Zusammenhang, in den dieses Wort gestellt ist:

Stephanus ist einer der Diakone der jungen Kirche. Die Apostel erkennen, dass das Werk Jesu wächst und dass sie Aufgaben mit anderen Berufenen teilen müssen. Und so wählen sie Menschen aus, die das vermögen und „geistesgegenwärtig“ sind: „Voll Gnade und Kraft“ – wie es in der Apostelgeschichte heißt. Das Werk Jesu bekommt also eine Zukunft, denn die Zahl der Getauften wächst und daher vertrauen die Apostel ihre Sendung weiteren Gemeindemitgliedern an. Das sind den Bibeltexten zufolge  übrigens Männer und Frauen. Daher ist es gut, dass die Kirche in heutiger Zeit immer wieder den Ruf zu hören bekommt, dass es Diakoninnen gegeben hat und auch heute wieder geben könnte.

Die frühen Christen haben – wie wir heute auch – um die Zukunft der Kirche gerungen und sie haben sich verändert und neuen Situationen angepasst. Dabei ging es darum, wie man die Menschen erreichen kann und wie die Botschaft auf fruchtbare Herzensböden fallen kann. Mit der Aussendung geistesbegabter Menschen oder wie wir das heute nennen – mit der Weihe der Diakonen und Diakoninnen – entwickelt das Christentum seine Wirkung über die Grenzen Palästinas hinaus.

Obwohl diese Fragen in der Kirche diskutiert werden, gehe ich davon aus, dass wir alle die Weihe von Frauen nicht mehr erleben werden. Aber muss uns das hindern, dass das System Kirche zur Entwicklung mehr als Generationen braucht?

Es bleibt eine Herausforderung, auf einem Berg in die Weite zu sehen und alle Details einmal zu vernachlässigen und nur die Weite und Größe, die Gnade und Freude des Gottesreiches zu sehen.

Stephanus war anscheinend jemand, der weiter blicken konnte. Er sah den Himmel offen. Was kann das bedeuten? Er blickte über die Beschränkungen der frühen Kirche hinaus und entwickelte das Christentum weiter. Nicht umsonst ist seine Geschichte und sogar sein Schicksal mit der des Saulus von Tarsos verknüpft. Der war zur Lebenszeit des Stephanus ein echter jüdischer Reaktionär, der neue Gedanken und andersdenkende  Menschen verfolgte. Eines der Opfer seiner und anderer Eiferer der Gewalt war Stephanus.

Es hat wenig Zweck, über die Zustände um uns herum fortwährend nur zu klagen. Zielführender wäre es, wenn wir ändern, was wir selbst zu ändern vermögen. Stellen wir uns also die Frage, wo wir eng und ängstlich reagieren, wo wir Neues nicht sehen können oder wollen, wo wir anstehende Veränderungen verdrängen oder gar andere anfeinden, die genau das zulassen. Als endliche und sterbliche Menschen haben wir schnell die Tendenz, Veränderungen zu meiden, weil wir uns zu Recht nach Sicherheit und Geborgenheit sehnen. Aber manchmal kommt der Augenblick, in dem uns klar werden kann, dass es schmerzhafter ist, in der Knospe zu bleiben als das Blühen zu wagen.

Das scheint ja das Umfeld des Stephanus gegen ihn am meisten aufgebracht zu haben, dass er anstehende Veränderungen erkannte und es auch wagte, sie zu äußern und zu leben. Er ist ein visionärer Mensch, der nicht im Klein-Klein der Wirklichkeit und des Alltags aufgeht, sondern er ist einer, der den Himmel offen sieht. In unserer Sprache scheint er ein Optimist zu sein, einer, der auf das Gute sieht und aus diesem Blick der Liebe auch das Endliche bewältigen und annehmen kann.

Für Stephanus wird diese Haltung ernst und auch in der letzten Herausforderung bleibt er sich treu: Im Tode blickt er durch die Schmerzen der schrecklichen Hinrichtung hindurch und sieht, was er immer gesehen hat: Der Himmel ist offen und wir sind dort erwartet. Wenn er für seine Feinde betet, dann zitiert er nicht nur die Worte Jesu am Kreuz, sondern er macht ernst mit seiner Lebenshaltung.

Darin kann der heilige Diakon uns und auch unserer derzeit so endlichen Kirche ein Vorbild sein. Er öffnet sich auch inmitten aller Vergänglichkeit dem Ewigen. Er ist nicht etwa ein blauäugiger Optimist, den man verlachen könnte. Er macht ernst mit seiner Haltung. Die Juden, die das Alte bewahren wollten, die die Steine auf ihn warfen, sie sind vergessen. Der Heilige ist noch heute Erzähler und Zeuge des Himmels.

P. Abraham Fischer OSB

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So steht es in der Präambel unseres Grundgesetzes. Der Diakon und Künstler Ralf Knoblauch hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Satz von der unantastbaren Würde jedes Menschen gleich welcher Herkunft, Religion, sexueller Orientierung im Bewusstsein einer Gesellschaft zu halten, die diesen Satz oft zu vergessen scheint. Mit seinen kleinen Königinnen und Königen macht er auf die königliche Würde jedes Menschen aufmerksam.

Weihnachten ist der tiefste Grund für diese Königswürde. Denn hier ist Gott selbst ein Mensch geworden. Er hat unsere so schwache, gefährdete, zerbrechliche Natur angenommen, um uns zu erlösen, zu retten. Genau das bedeutet der Name Jesus: Gott rettet. Gott rettet – und er stellt unsere unantastbare Königswürde wieder her, gerade da, wo sie mit Füßen getreten wird. Das ist die Hoffnungsbotschaft von Weihnachten. Wir sind Königinnen und Könige, ganz egal, was andere behaupten.

Ich wünsche Ihnen an diesem Weihnachtsfest, dass Sie sich immer neu Ihrer königlichen Würde bewusst werden – und dass wir uns sanft daran erinnern mögen, wenn wir im Getriebe des Alltags selbst nicht mehr daran glauben können.

P. Maurus Runge OSB

In dieser Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde.
(aus Lk 2,1-14)

Vor einigen Tagen konnte man im Bayerischen Rundfunk einen Beitrag sehen, wie ein Kamerateam eine Hirtin dabei begleitet, wie sie ihre Schafherde im Münchner Umland in das Winterquartier treibt.  Stolz erzählt sie, dass sie sich keinen anderen Beruf vorstellen könnte und ihre Familie schon viele Generationen Schäfer seien.
Die Welt, durch die sie ihre Herde trieb, war bezeichnend. Es ging durch sonntäglich leere Gewerbegebiete an einem McDonald‘s vorbei, über Autobahnbrücken, bis zum Zielort bei Fröttmaning, wo einst ihre Familie im gleichnamigen Dorf einen Hof hatte. Doch von diesem Dorf steht nur noch eine kleine Kirche. Der Rest musste im letzten Jahrhundert einer immer grösser werdenden Mülldeponie weichen. Mittlerweile ist auch die Deponie wieder verschwunden, alles ist vorbildlich renaturiert. Fröttmaning kennt heute jeder in München als Haltestation der U6, und auch jeder Fußballfan. Denn ein paar Kilometer hinter der kleinen Dorfkirche ragt eine“ neue Kirche“ wie ein großes Luftkissen aus der Landschaft hervor, die „Allianz Arena“.
Hirten gehören zu einem der ältesten Berufe der Menschheit, und auf wundersame Weise hat es dieser Beruf in die Moderne geschafft.
Hirten erzählen uns davon, wie wir Menschen einst als Nomaden umherzogen und dann langsam sesshaft wurden.
Die Geschichte von Kain und Abel berichtet eigentlich davon, welche Konflikte zwischen nicht sesshaften Menschen (Hirten) und sesshaften Menschen (Ackerbau) damals entstanden. Die einen legen ein Feld an, auf dem etwas sprießt und wachsen soll. Und Ziegen oder Schafe entscheiden sich natürlich auf ihrer Suche nach Futter für die die neue leckere Überraschung, wenn es sonst immer nur trockenes Gras gibt.
So war Streit vorprogrammiert und fand sogar einen prominenten Platz in der Heiligen Schrift.
König David war ein Hirte, Moses arbeitet als Hirte, als ihm Gott im brennenden Dornbusch erschien, Jesus ist bekannt als der gute Hirte.
Wir verstehen heute immer noch viele der manchmal archaischen Bilder der Bibel, vieles ist vertraut, und dennoch können wir dabei auch immer wieder Neues, Überraschendes entdecken.
So frage ich mich z.B., ob der Evangelist Lukas ein wenig dabei schmunzelte, als er das Weihnachtsevangelium schrieb. Denn er hat darin einen politischen Witz versteckt. Es ist bezeichnend, dass der Engel Hirten erscheint. Aber eben echten Hirten, deren Ruf nicht der beste war. Die frohe Botschaft wird nicht Kaiser Augustus verkündet, der sich selbst gerne als Hirten der römischen Völker sah. Der Engel hat den „großen Hirten“ bewusst übergangen und landet bei einer kümmerlichen Schar auf dem nächtlichen Feld.
Und hier sind wir auch schon bei der Kehrseite der Medaille. Der Hirte ist ein großes archetypisches Bild, aber der gesellschaftliche Stand von Hirten selbst war nie sonderlich gut, und hinter dem romantischen Bild liegt ein Beruf, der harte Arbeit ist.
Auch unsere Hirtin berichtet davon, wie ihre Arbeit nicht in eine 35-Stunden-Woche passt. Aber aus ihrem Gesicht spricht dabei eine Zufriedenheit, und es ist beruhigend zu sehen, wie sie ihre Herde durch alle Unwägbarkeiten unserer Zeit sicher geleitet. Ein wenig scheint es fast so, dass immer noch ein kleiner Glanz von dem „Fürchtet euch nicht“, das ihre Vorgänger damals in der Heiligen Nacht hörten, bei ihr zu sehen ist.

Br. Balthasar Hartmann OSB

O Immanuel,
unser König und Lehrer,
du Hoffnung und Heiland der Völker:
o komm, eile und schaffe uns Hilfe,
du unser Herr und unser Gott!

Aus der O-Antiphon „O Immanuel“ möchte ich den Vers „Komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott“ hervorholen. Ist doch durch die Tragödie beim Weihnachtsmarkt in Magdeburg oft nur noch ein Schrei nach Hilfe möglich. Komm, eile und schaffe uns Hilfe, Gott, der uns im Psalm 23 zusagt: „Und muss ich auch wandern in finsterer Schlucht… du bist ja bei mir.“

Vieles verstehe ich nicht. Viele Fragen bleiben offen. Viel Leid muss ertragen werden, obwohl es manchmal unerträglich wirkt. Auch wenn ich Gott nicht verstehe, so glaube ich an seine Gegenwart trotz aller Gewalt in der Welt. Das gibt meinem Leben Hoffnung – in der Erwartung auf das Kind in der Krippe, das am Kreuz stirbt und dennoch aufersteht.

Br. Benjamin Altemeier OSB

O König der Völker, ihre Erwartung und Sehnsucht,
Schlussstein, der den Bau zusammenhält:
o komm und errette den Menschen,
den du aus Erde gebildet!

Die heutige O-Antiphon ist zutiefst verbunden mit unserer Gemeinschaft von Königsmünster. Unsere Kirche wie auch unser Kloster sind Christus, dem König geweiht. Er übt sein Königtum jedoch ganz anders aus als die Könige und Herrscher dieser Welt.

Ein Leitsatz vieler Herrscher lautet „Divide et impera! – Teile und herrsche!“ Also: Schaffe in deinem Reich möglichst viele Untergruppen mit gegensätzlichen Interessen. Und schau dabei zu, wie sie ihre Interessen gegeneinander ausspielen. So kannst du in Ruhe herrschen.

Ganz anders Jesus Christus. Er ist der „Schlussstein, der den Bau zusammenhält“. Zusammenhalt, nicht Spaltung ist seine Maxime. Die Vielfalt nicht gegeneinander ausspielen, sondern das Beste von jedem Menschen zum Aufbau des Ganzen nehmen. Solche Versöhner brauchen wir heute dringender denn je.

Ja, komm, du Friedenskönig, und rette den Menschen und die Welt!

P. Maurus Runge OSB

Morgenstern

Dein Glanz rührt unser Warten an

Nährst Hoffnung auf Morgen

Vor-Bote des Neuen

Aber Du gehst unter, wenn das Licht erscheint

 

Einsam stehend in Dunkelheit

lässt Nachtlichter – die Irrenden – zurück

Silberner Schein – Nacht verblasst

Doch Du gehst unter, wenn das Licht erscheint

 

Wandelnd zwischen den Zeiten

Dein Aufgang in den Herzen

Hoffnung inmitten der Nachtgedanken

Und Du gehst unter, wenn das Licht erscheint

 

Du leuchtest uns heimwärts

Treuer Begleiter auf die andere Seite

Du gehst hinüber, wenn das Licht erscheint

In uns verinnert sich Abglanz

 

Morgenstern – Licht des aufgehenden Lichtes

P. Abraham Fischer OSB

O Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel – du öffnest, und niemand kann schließen, du schließt, und niemand vermag zu öffnen: Komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fesseln des Todes. (O-Antiphon vom 20.12.)

Ich bin ein Nachtmensch und sitze oft abends noch lange am Schreibtisch. Da ist es schon einige Male passiert, dass durch das offene Fenster eine leise Stimme zu hören ist oder das Handy klingelt: „Du, Guido, ich habe meine Schlüssel vergessen. Kannst du mich bitte reinlassen?“

Daran erinnert mich die O-Antiphon des heutigen Tages.

Wem kann ich Türen öffnen,
helfen, einen Eingang zu finden?

Wo fehlt mir denn der Schlüssel,
um bestimmte Türen zu öffnen?

Weiß ich um die Türen –
und weiß ich, wo der Schlüssel ist?

In der O-Antiphon sind Schlüssel und Zepter genannt,
Symbole der Macht.

Wenn ich sie nicht nur auf Gott und Jesus beziehe:
wo steckt bei uns die Macht,
anderen Türen verschlossen zu halten?

Wer hat die Macht, bestimmte Schlüssel zu haben
– nicht nur im Kloster?

Im Café PAN, mitten in Meschede,
sind sehr viele Schlüssel verteilt an Jugendliche, die sich dort treffen.
Wäre das nicht ein Beispiel für unsere Gemeinden, unsere Kirche?
Nicht nur im ganz realen Sinn.
Auch im übertragenen Sinn.

Vielleicht würden dann ja manche Kerker und Fesseln,
die wir heute (noch) erleben, sich lösen.

Könnte nicht Kirche neu lebendig werden,
gestaltet von Vielen?

Was ist denn, wenn wir ganz neu darauf vertrauen,
dass Gott uns die richtigen Schlüssel gibt.

Jedem.

P. Guido Hügen OSB

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ lautet der Titel des letzten Films des in diesem Jahr viel zu früh verstorbenen Dokumentarfilmers Thomas Heise. Heise erzählt anhand von Briefen und Dokumenten die Geschichte seiner Familie, von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart. Und das in Bildern, die herausfordernd sind. Dabei entstand ein Wurzelgeflecht aus eigener Geschichte, die gleichzeitig auch unsere kollektive Geschichte ist. Heise war auch besonders ein Chronist davon, was passiert, wenn Menschen ihren Halt, ihre Wurzeln verlieren. In seinen Filmen aus den 1990er Jahren begleitete er Jugendliche in Ostdeutschland dabei, wie sie die Wende und das neu vereinte Deutschland erleben und danach ringen, ihre Identität zu finden. Was geschieht mit Menschen, wenn eine vertraute Welt verschwindet, und es schwer ist, sich in der neuen Welt zu verwurzeln? Viele glitten dabei in Gewalt oder Radikalismus ab. Und die Spuren dieser Erfahrungen sind ja bis heute besonders in den neuen Ländern sichtbar.

O Spross aus Isais Wurzel,
gesetzt zum Zeichen für die Völker –
vor dir verstummen die Herrscher der Erde,
dich flehen an die Völker:
o komm und errette uns,
erhebe dich, säume nicht länger
!

Die O-Antiphon, die wir heute in der Vesper singen, erzählt uns davon, wie etwas staunenswert Neues aus einem Wurzelraum erwächst. Das vollkommene Gegenteil von einer Entwurzelung.  Eine aufkeimende Hoffnung. In diesem Fall die Erfüllung der Prophezeiung der Ankunft des Messias. Das hat etwas Tröstendes, besonders in Zeiten von Unsicherheit und Wandel, denn der Schimmer einer friedvollen Welt sprießt genau aus der Unsicherheit hervor.

Diese O-Antiphon kann aber auch gleichzeitig Anlass dafür sein, uns einmal selbst zu fragen, wo wir uns genau verwurzeln und was uns dabei Heimat gibt, aber auch, wo wir unseren Halt verloren haben, unsere Wurzeln gekappt wurden und nichts mehr aufkeimen konnte.

Br. Balthasar Hartmann OSB

O Adonai
Herr und Führer des Hauses Israel –
im flammenden Dornbusch bist du dem Mose erschienen
und hast ihm auf dem Berge das Gesetz gegeben:
O Komm, und befreie uns mit deinem starken Arme!

„Mein Gott nochmal,
glaub ja nicht, wir würden Dich darum bitten, mit deinem starken Arm dazwischenzuhauen. Das wäre ein Alptraum.
Du hast etwas ganz anderes zu bieten:
Du kannst mit Deiner Art, bei den Menschen zu sein, die Machtgier in uns zum Schweigen bringen, du kannst den Mose in der Wüste neugierig machen und so stark zum Staunen bringen, dass er sich in den Staub knieen muss. Du vertraust dem Volk Israel deinen unbegreiflichen Namen an, so dass es davon nicht loskommt, dich als den ‚Gott für uns‘ anzurufen, auch wenn manchmal im Chaos und der Leere nur ein Fünkchen Hoffnung übrig geblieben ist.
O Adonai, befreie uns von Hass und Großmannssucht, Angst und falschen Führern.“

„Tue ich doch. Ihr habt euch auf das Jesuskind in der Krippe eingelassen, das feiert ihr doch Weihnachten, nicht wahr!“

„Stimmt,“ sage ich ganz leise.

„Einer von Euch hat das besonders gut in die Worte gefasst: ‚Das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen‘. Sucht mal nach, wo es steht.“

„Danke, aber es lesen reicht wohl nicht.“

„Ich bin ja auch noch da.“

P. Johannes Sauerwald OSB (frei nach Annette Jantzen)