Predigt am 3. Sonntag im Jahreskreis (26.01.2025)
von P. Klaus-Ludger Söbbeler OSB
zu Neh 8,2-4a.5-6.8-10; Lk 1,1-4;4,14-21
Aus der Unter-drückung in die Heraus-forderung
I.
Es bedarf schon eines sehr glücklichen Augenblicks, damit das gelingt, was dem Schriftgelehrten Esra gelungen ist: Da wird von der Kanzel das Gesetz Gottes verlesen und erklärt – und die Reaktion ist: Die Leute hören vom frühen Morgen bis zum Mittag wie gebannt zu (vgl. Neh 8,3). Noch mehr: „Alle Leute weinten, als sie das Gesetz hörten.“ (Neh 8,9) Ein ziemlicher Unterschied zur Wirkung einer heutigen Routinepredigt!
II.
Worin bestand die Besonderheit dieses Augenblicks, die eine solche Reaktion des Predigtpublikums ermöglichte? Es scheinen nicht die rednerischen Fähigkeiten oder der Unterhaltungswert Esras gewesen zu sein. – Es war vielmehr die Situation der Menschen: Historisch sind wir in der Zeit um 500 vor Christus. Die „babylonische Gefangenschaft“ war zu Ende. Offen und völlig unklar war jedoch, wie es weitergehen würde. Die Menschen fragen: Wie packen wir’s an? – Wir sind heraus aus der Unterdrückung und müssen herausfinden, wie wir mit der gewonnenen Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung umgehen.
Für die Zuhörer Esras ist Gott in einem solchen Augenblick kein selbstverständliches oder überflüssiges Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern die Chance, nach 40 Jahren Zwangsherrschaft unter den Babyloniern und ihrem menschenverachtenden Gottkönig neu anzufangen. Da war es eine aufrüttelnde Entdeckung, welchen Zugang zu Gott aufzeigte: Das „Gesetz Gottes“ ist kein Zwangsinstrument wie das gottkönigliche und menschenverachtende Reglement in Babylon sondern ein stimmiger Leitfaden fürs Leben, Gottes „Service“, „Gnade“ im Ursinn des Begriffs.
Gott als Lebenschance: Nicht auf dem Umweg über verstiegene Gedankenkonstruktionen, sondern ganz direkt, alltäglich, als unmittelbar einleuchtende Hilfe für die handfesten Herausforderungen, die anstehen: Heraus-forderung statt Unter-drückung.
III.
Um erschlagen zu werden, wo wir zurzeit gefordert sind, braucht es nicht mehr als den Klick auf eine beliebige Nachrichtenseite.
Kann uns hier und jetzt das Gesetz Gottes eine Hilfe sein, – so sehr, dass wir von morgens bis mittags zuhören und uns am Ende die Tränen der Erleichterung kommen?
Wenn ich merke, dass das ehrlicherweise nicht der Fall ist, gibt es daraus zwei Schlussfolgerungen:
Entweder:
Gott ist für mich tatsächlich entbehrlich.
Oder:
Die Erwartungen, die mich umtreiben, und mit denen ich mich abmühe, sind falsch, weil sie eigentlich keine Heraus-forderungen, sondern Unter-drücker sind.
Denn es gibt Dinge, bei denen kann und will Gott in der Tat nicht helfen, weil er eben kein Unterdrücker, sondern ein Herausforderer ist: Um dafür zu sorgen, dass alles so weiterläuft wie immer, dazu braucht man Gott nicht; dafür reicht ein aufgeblasenes Menschlein wie der babylonische Gottkönig, dessen Vergötterung ich mir aufschwätzen lasse und einrede. Für so etwas lässt Gott sich schon deshalb nicht gebrauchen, weil das Gottesmissbrauch wäre, also ein Verstoß gegen das zweite Gebot: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.“ (Ex 20,7)
IV.
Wozu Gott gebraucht wird und wozu er sich gebrauchen lässt, das macht Jesus im Evangelium deutlich: „Gott hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze.“ (Lk 4,18f)
Jesus nennt vier Heraus-forderungen, durch die er dem Menschen hindurch helfen will, damit sie ihn nicht mehr unter-drücken: Armut – Gefangenschaft – Blindheit – Zerschlagenheit.
Dass von Gott tatsächlich eine gute Nachricht kommt, wird vermutlich nur der ernst nehmen können, der ernst nimmt, wie arm er eigentlich ist, – allen Versuchen geschickter Selbstdarstellung zum Trotz.
Dass Gott tatsächlich Entlassung der Gefangenen verkündet, wird vermutlich nur den erreichen, der merkt, wie sehr er eingesperrt ist in enge Denkmuster, aufgezwungene Verhaltensweisen und falsche Abhängigkeiten.
Dass Gott den Blinden das Augenlicht bringt, wird vermutlich nur da Erleuchtung bringen, wo jemand merkt, dass die Welt größer ist als der enge Tunnelblick, an den er sich gewöhnt hat.
Dass Gott die Zerschlagenen in Freiheit setzt, wird vermutlich nur den aufrichten, der sich nicht zu schade ist, zuzugestehen, wie Vieles in ihm und um ihn zerschlagen und kaputt ist.
V.
Diese Sichtweise ist zunächst mal harte Kost: Das – von mir selbst, nicht von „den anderen“ – Überspielte, Verschwiegene, und Verdrängte tritt zutage und wird mich möglicherweise ziemlich erschrecken. Aber vermutlich ist dieser Schrecken heilsam, weil etwas beim Namen Genanntes sich nicht mehr verselbständigen und nicht mehr runterziehen wird, sondern angepackt werden kann. Diese Wandlung des Unter-drückenden in eine Heraus-forderung, das ist die Sendung Jesu.
Schon lange vor Jesus hatten der Priester Esra und seine Zuhörer mit Kopf und Herz das Geheimnis dieser Wandlung verstanden: In dem ebenso anspruchsvollen wie glücklichen Augenblick, in dem sie unter Tränen dem Gesetz Gottes lauschten, hatte sich für sie verwirklicht, womit die Lesung wie ein großer Schlussakkord abschloss: „Die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Neh 8,10)