Impuls am Osterdienstag (06.04.2021)
Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften. (Lk 24,45 – ganze Lesung: Lk 24,36-49)
Was mir bei den biblischen Erzählungen der Erscheinungen des Auferstandenen vor seinen Jüngern auffällt, ist, dass Jesus oft als „Exeget“ auftritt, als einer, der seinen Jüngern die Schriften Israels auslegt. Schon bei der Erzählung über die Emmausjünger war das so, und auch in der heutigen Perikope ist es ähnlich. Jesus sagt es hier ganz deutlich: „Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht.“ Hier haben wir übrigens eine erste Beschreibung des Dreiklangs unseres heutigen Alten Testaments, das auch Tanach genannt wird – eine Wortschöpfung, die gebildet wird aus den hebräischen Begriffen Tora (das Gesetz des Mose), Nebiim (die Propheten) und Ketubim (die „Schriften“ der jüdischen Weisheitsliteratur, zu denen vor allem die Psalmen gehören).
Mit der Auferstehung bzw. Auferweckung mag zwar etwas Neues geschehen sein, was es vorher noch nie gegeben hat (erst die Spätschriften des Alten Testaments kennen eine Hoffnung auf die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten), aber dieses Neue ereignet sich auf dem Boden des Judentums. Jesus ist nicht gekommen, um das Judentum abzuschaffen oder um es durch eine andere Religion zu ersetzen. Er war selbst Jude und ist in den Traditionen seines Volkes aufgewachsen. Die Schriften Israels sind der Nährboden, von dem her die umstürzende Erfahrung der Auferstehung verstanden und ausgelegt werden kann. Deshalb will Jesus seinen Jüngern den Sinn für das Verständnis ihrer Schriften neu öffnen.
Im Lauf der Geschichte hat sich das Christentum immer mehr vom Judentum seiner Zeit gelöst – mit tragischen Folgen in den jüdisch-christlichen Beziehungen. Die Tochter löste sich immer mehr von der Mutter – und brach oft völlig mit ihr, ja, gab der Mutter die Schuld für alles, was bei der Tochter nicht aufgearbeitet war – ein bekanntes psychologisches Muster. Erst seit dem II. Vatikanischen Konzil wächst das Verständnis dafür, dass es die jüdischen Wurzeln sind, die auch uns tragen. So etwas wie „Judenmission“ kann es nicht geben. Kann man sich so einfach von den eigenen Wurzeln lossagen?
Jesus bleibt auch als Auferstandener eingebettet in die Traditionen seines Volkes und seiner Religion. Nur wer die Schriften Israels kennt und immer neu um ihr Verständnis bemüht ist, kann auch das Neue der Auferstehung verstehen. Deshalb beten wir Mönche auch täglich die Psalmen, die alten jüdischen Gebete, die so reich sind an menschlicher Erfahrung, um uns über die Jahre „hineinzubeten“ in unsere Wurzeln, die uns bis heute tragen und die wir nie abschneiden dürfen.
P. Maurus Runge OSB