Predigt am Weihnachtstag (25.12.2025)
von P. Marian Reke OSB
Nur wenige Stunden ist es her, dass wir Heilige Nacht gefeiert haben. Die Geburt und die Geburtlichkeit! Leben ist nicht nur sterblich, es ist auch geburtlich. Ein ungewohntes Wort! Es kommt auf die Perspektive an – und auf den steten Perspektivwechsel zwischen Enden und Anfangen. Wie sehe ich die Welt?
Das Weihnachtsgeheimnis des Anfangs vermag stets aufs Neue die Seelen vieler Menschen zu berühren. Den alten Geschichten von Engelsboten, von Herden und Hirten auf freiem Feld und vom Stall zu Bethlehem, eignet eine Aura, die uns umhüllt und das Ohr und die Augen des Herzens öffnet. Auch jetzt in der Tageshelle des Hochfestes feiern wir Weihnachten – aber sozusagen auf einen anderen Ton gestimmt.
Wie von fernher erreicht uns in den Lesungen die Prophetie des Jesaja: eine jubelnde Botschaft des Friedens und der Freude, des Trostes. Verheißungsvolle Vorworte jener alles erfüllenden und überbietenden Selbstmitteilung Gottes, der endgültig gesprochen hat durch den Sohn, wovon der Hebräerbrief kündet. Und es erklingen die uns bekannten und doch so befremdlich wirkenden ersten Verse des Johannesevangeliums. Sie muten an wie wuchtige Akkorde zum Auftakt einer großen Symphonie. In Rückbindung an den Schöpfungsmorgen lässt uns der Johannesprolog das Drama der Erlösung ahnen: die Jesusgeschichte von der Krippe bis zum Kreuz und darüber hinaus – ins Osterlicht. „Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. / Im Anfang war es bei Gott. // In ihm war das Leben, / und das Leben war das Licht der Menschen.“
Gestimmt auf diesen Ton singt in Gemeindemessen vor dem Evangelium der Kantor den ins Deutsche übertragenen Alleluja-Vers der Weihnachtsliturgie: „Aufgeleuchtet ist aufs Neue der Tag der Erlösung“. Das Wort Erlösung wird musikalisch gleichsam wie ein geschliffener Kristall ins Licht gehoben und erstrahlt.
Worin aber liegt – jenseits aller Poesie – das Erlösende des heutigen Festes? Wird uns nicht gerade an Tagen wie diesen erschreckend bewusst, wie wenig erlöst unsere Welt – die große und die kleine – erscheint? Wie können wir Jahr für Jahr an Weihnachten so leichthin von der Welterlösung reden und singen, wenn uns doch die großen und kleinen Lösungen der Weltprobleme immer wieder derart schwer von der Hand gehen?
Vielleicht liegt die Antwort auf diese bedrückenden Fragen darin, dass wir sie andersherum stellen müssten. Will sagen: Wir tun uns womöglich mit den konkreten Problemlösungen oft so schwer, weil wir – gegen alle Festbeteuerungen – im Alltag zu selten bewusst „von der Erlösung her“ denken und fühlen, zu wenig „von der Erlösung“ her leben. Das Wort von Joseph Wittig auf seinem Grabkreuz unten auf dem Mescheder Südfriedhof, gilt nicht erst den Toten, es gilt uns Lebenden: „Getröst, getröst! Wir sind erlöst.“
Was macht nun eigentlich das Erlösende von Weihnachten aus? – Wenn Gott in Jesus Christus Mensch wird und dabei Gott bleibt, wie wir bekennen, wenn er also wahrer Gott und wahrer Mensch ist, dann ist die Welt kein in sich geschlossenes System, dann dreht sich die Erde nicht bloß um sich selbst, dann gibt es ein offenes Zueinander und Füreinander von Himmel und Erde. Der Theologe Hans Urs von Balthasar hat es so gesagt: „Weihnachten ist nicht ein innergeschichtliches Ereignis, sondern der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit.“ Die dadurch sich auftuende Offenheit zwischen Himmel und Erde liegt zwar nicht offen zutage, sie bleibt verborgen und zwingt sich nicht auf, aber sie wird sich nie mehr schließen.
In der vierten der sieben adventlichen O-Antiphonen haben wir die weihnachtliche Öffnung unserer in sich verriegelten Welt herbeigerufen – mit Worten aus der Geheimen Offenbarung: „So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat, der öffnet und niemand wird schließen, der schließt und niemand wird öffnen: Ich kenne deine Taten, siehe, ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand mehr schließen kann (nicht einmal du selbst, ließe sich ergänzen). Du hast (zwar) nur geringe Kraft und dennoch hast du an meinem Wort festgehalten.“ Wer an diese Offenheit glaubt, ihr also ernsthaft traut und demnach alles auch zutraut, dem wird ein neues, sich stets erneuerndes Lebensgefühl geschenkt, der sieht die Welt mit anderen Augen. Könnte es nicht sein, dass die konkreten Lösungen, die wir für die konkreten Probleme unserer Welt brauchen, sich leichter finden lassen, wenn wir einzeln und gemeinsam fest darauf vertrauen, für unsere Problemlösungen nicht bloß auf uns selbst angewiesen zu sein?!
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Gnade der Erlösung macht das Werk der Lösungen, zu denen wir herausgefordert sind, nicht überflüssig. Aber: Nicht von den Lösungen her kommt die Erlösung. Erlösung ist nicht die Summe aller Lösungen. Nein, umgekehrt: Von der Erlösung her kommen leichter Lösungen in Sicht. Vieles in Kirche und Gesellschaft, auch im Kloster, ist womöglich nur deshalb so mühsam zu schultern, weil uns der lange Atem ausgeht, indem wir den pragmatisch-technisch zu organisierenden Lösungen hinterherhecheln. So nötig und notwendig sie auch sind: Lasst uns dennoch den gewohnten Turn der sogenannten Sachzwänge hin und wieder unterbrechen und innehalten, um ein paar Momente den Atem der Erlösung zu erspüren und bewusst darin zu atmen, ganz schlicht, ganz alltäglich, ganz treu und wie neu – also einfach immer, immer wieder.



