2. Dezember – Die Nacht ist vorgedrungen
von P. Maurus Runge OSB
Die Adventszeit ist für viele Menschen die wohl schönste Zeit im Jahr. Die unterschiedlichen Bräuche und Düfte, Lieder und Gesänge wecken Erinnerungen an Kindheitstage und rufen eine unbestimmte Sehnsucht in uns wach.
Eines der Lieder, das mich am meisten berührt, ist das Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“ (GL 220) mit seinen gegensätzlichen Bildern von Dunkelheit und Licht, Nacht und Tag, Schuld und Erlösung. Für mich ist es ein Hoffnungslied, das davon singt, dass die Nacht schon „vorgedrungen“, also am Ende ihres Laufes angekommen ist und dass schon der helle Morgenstern naht, in der Tradition auch ein Sinnbild für Jesus Christus. Es passt gut in dieses zu Ende gehende Jahr der Hoffnung – und es passt in eine Zeit, die oft jede Hoffnung verloren zu haben glaubt.
Das Lied ist in einer der dunkelsten Zeiten unserer deutschen Geschichte entstanden. Der evangelische Theologe Jochen Klepper hat es 1938 geschrieben, in der Zeit, in der die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus unser Land vergiftete. Eine Zeit der Hoffnungslosigkeit und tiefsten Verzweiflung, der dunkelsten Nacht. Auch ganz existentiell für Jochen Klepper selbst, der seit 1931 mit der Jüdin Johanna Stein verheiratet war, die aus erster Ehe zwei Töchter hatte. Nicht nur seine Familie missbilligte diese Verbindung, auch das NS-Regime machte es den beiden immer schwerer. So wurde Jochen Klepper 1941 wegen der Ehe mit einer „nichtarischen“ Frau als „wehrunwürdig“ aus der Wehrmacht entlassen. Eine Ausreise ins rettende Ausland scheiterte, die Deportation stand unmittelbar bevor, und so wusste die junge Familie keinen Ausweg, als sich in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 1942 mitten in der Adventszeit das Leben zu nehmen.
Die letzte Eintragung im Tagebuch Kleppers lautete: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – Wir gehen heute nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“
Eine Geschichte, ein persönliches Drama der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Und dennoch hat Klepper den Glauben an den segnenden Christus auch in dunkelster Zeit nie verloren. Das Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“ gibt eindrucksvoll Zeugnis davon.
„Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“ Wir können uns wohl nur schwer vorstellen, unter welcher inneren Not Klepper diese Zeilen geschrieben hat. Glauben und Halt hat Klepper in dem gefunden, dessen Ankunft so ganz anders daherkommt als die der NS-Schergen und Folterknechte: „Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht. … Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.“ Der Retter der Welt erscheint als wehrloses Kind. Er wird geboren in einem ärmlichen Stall im Übergang von der Nacht zum Tag, dann, wenn die Nacht schon im Schwinden ist. Dort ist das Heil zu finden, das Licht in der Dunkelheit, die Hoffnung in der Verzweiflung.
„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.“ Es ist, als hätte Klepper mit diesen Zeilen schon in die Zukunft gesehen, auch in unsere Zeit, auf die Nächte des Menschenleids in der Ukraine, im Heiligen Land, im Sudan und an so vielen anderen Orten auf dieser Welt, auch auf die Nächte der Menschenschuld im Großen und im Kleinen. Wie ein Schrei der Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit erklingen dann die nächsten Zeilen: „Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr; von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“
Wir erwarten auch in diesem Advent einen Gott, der nicht zu den strahlenden Siegertypen gehört, einen Gott, der „im Dunkel wohnen“ will und dieses Dunkel erhellen will, weil er selbst alle Dunkelheit, Nacht und Schuld dieser Welt ausgelitten hat. Gott ist hinabgestiegen an den tiefsten Punkt unserer Existenz. Sein Licht erreicht auch noch diesen Nullpunkt. Während der Adventszeit wird Woche für Woche dieser Punkt heller.
Der, der uns einmal richten wird, ist derselbe, der als Kind in der Krippe lag und als Verbrecher am Kreuz hingerichtet wurde. Das ist unsere tiefste Hoffnung mitten im Dunkel unserer Zeit, mitten in unserer ganz persönlichen Nacht.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in dieser Adventszeit die Erfahrung machen, dass auch in der Dunkelheit Ihres Herzens Gott wohnt und es mit dem Stern seiner Gottesliebe erhellt.

Roman Weis

