Bilder der Hoffnung: O WURZEL JESSE (19.12.2024)

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ lautet der Titel des letzten Films des in diesem Jahr viel zu früh verstorbenen Dokumentarfilmers Thomas Heise. Heise erzählt anhand von Briefen und Dokumenten die Geschichte seiner Familie, von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart. Und das in Bildern, die herausfordernd sind. Dabei entstand ein Wurzelgeflecht aus eigener Geschichte, die gleichzeitig auch unsere kollektive Geschichte ist. Heise war auch besonders ein Chronist davon, was passiert, wenn Menschen ihren Halt, ihre Wurzeln verlieren. In seinen Filmen aus den 1990er Jahren begleitete er Jugendliche in Ostdeutschland dabei, wie sie die Wende und das neu vereinte Deutschland erleben und danach ringen, ihre Identität zu finden. Was geschieht mit Menschen, wenn eine vertraute Welt verschwindet, und es schwer ist, sich in der neuen Welt zu verwurzeln? Viele glitten dabei in Gewalt oder Radikalismus ab. Und die Spuren dieser Erfahrungen sind ja bis heute besonders in den neuen Ländern sichtbar.

O Spross aus Isais Wurzel,
gesetzt zum Zeichen für die Völker –
vor dir verstummen die Herrscher der Erde,
dich flehen an die Völker:
o komm und errette uns,
erhebe dich, säume nicht länger
!

Die O-Antiphon, die wir heute in der Vesper singen, erzählt uns davon, wie etwas staunenswert Neues aus einem Wurzelraum erwächst. Das vollkommene Gegenteil von einer Entwurzelung.  Eine aufkeimende Hoffnung. In diesem Fall die Erfüllung der Prophezeiung der Ankunft des Messias. Das hat etwas Tröstendes, besonders in Zeiten von Unsicherheit und Wandel, denn der Schimmer einer friedvollen Welt sprießt genau aus der Unsicherheit hervor.

Diese O-Antiphon kann aber auch gleichzeitig Anlass dafür sein, uns einmal selbst zu fragen, wo wir uns genau verwurzeln und was uns dabei Heimat gibt, aber auch, wo wir unseren Halt verloren haben, unsere Wurzeln gekappt wurden und nichts mehr aufkeimen konnte.

Br. Balthasar Hartmann OSB