Predigt am 31. Sonntag im Jahreskreis (3.11.2024)

von P. Maurus Runge OSB

„Welches Gebot ist das erste von allen?“ Die Frage des Schriftgelehrten an Jesus ist durchaus berechtigt – und bleibend aktuell. Welches Gebot in dieser Vielzahl an Geboten der Tora ist die innerste Mitte, an der ich mich orientieren kann? Welches Gebot gibt den anderen Sinn? Woran soll ich mich halten in dieser Vielzahl von Worten?
Und Jesus antwortet aus der Mitte der jüdischen Tradition heraus, mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis (Schema Israel), das jeder gläubige Jude täglich betet: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“
Scheinbar ganz einfach – und doch beginnen die Fragen und Missverständnisse hier erst. Das zeigt sich deutlich, als vor einigen Monaten der Spitzenkandidat der AfD in Brandenburg, der sich selbst als katholisch bezeichnet, gefragt wurde, was für ihn Nächstenliebe bedeute. Seine Antwort: „Da ich katholisch bin, bedeutet Nächstenliebe für mich, sich um die Angehörigen des eigenen Volkes zu kümmern.“ Das Konzept der Nächstenliebe wird also schamlos missbraucht für das völkisch-nationalistische Programm dieser Partei, missbraucht dazu, Fremde auszuschließen, auszugrenzen, letztlich abzuschieben. Nächstenliebe als Ausschließungsprogramm. Gut, dass Erzbischof Koch, sein zuständiger Bischof, dieser Aussage sofort widersprochen hat und klarstellte, dass christliche Nächstenliebe auch dem gelte, „der eine andere Meinung, eine andere Überzeugung, einen anderen Pass hat. Nächstenliebe kennt keine Fremden.“
Anders ausgedrückt: Auch der Fremde wird mir zum Nächsten, „denn er ist wie du“. So übersetzt Martin Buber das „wie dich selbst“: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Er ist Mensch wie du – mit allen Stärken und Schwächen, mit allen Gaben und Talenten.
Übrigens sagt das auch schon die jüdische Tradition, die für uns Christen ebenfalls Heilige Schrift ist. Im Buch Leviticus heißt es: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (vgl. Lev 19,34) Und in der Parallelstelle zu unserem heutigen Evangelium erzählt Lukas auf die Frage des Schriftgelehrten, wer denn sein Nächster sei, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das schon hier die eigenen Stammesgrenzen sprengt und im Samariter, der dem Verletzten zum Nächsten wird, die Nächstenliebe sozusagen universalisiert.
Die Weiterführung der markinischen Episode bei Lukas zeigt etwas Wichtiges: Liebe ist nicht etwas Abstraktes, keine Theorie, die in schönen Worten beschreibt, was es mit der Liebe auf sich hat. Nein, Liebe ist immer konkret, sie drängt mich zur oft unspektakulären Tat, spornt mich an, dem anderen zu helfen, macht sich die Hände schmutzig und verbindet Wunden. Eine so verstandene Nächstenliebe hat dann wiederum mit Gott zu tun, denn in dem Menschen, der mich jetzt gerade braucht, der mir zum Nächsten wird, begegnet mir Gott, wird Gott aufs Neue Mensch. Menschwerdung setzt sich bis heute fort.
Einer, der diese Liebe ganz konkret gelebt hat, ist der in der vergangenen Woche verstorbene Altbischof von Limburg, Franz Kamphaus. „Den Armen das Evangelium verkünden“ – sein bischöflicher Wahlspruch war für ihn keine leere Floskel, sondern ist in seinem Leben konkret geworden: in seiner Einfachheit und Bescheidenheit. In seinem kompromisslosen Eintreten für die Armen von heute – da hat er auch keine Konflikte gescheut, wenn er etwas als richtig erkannt hat, wie es sein Einsatz für einen Verbleib der Kirche in der staatlichen Schwangerschaftsberatung zeigte. Gerade so wollte er dem Leben dienen auf allen Ebenen. Und seine langjährige Aufgabe als Weltkirchenbischof hat ihn über den Tellerrand des eigenen Landes schauen lassen, damit die Nächstenliebe eben nicht eng verstanden wird, sondern sich ausweitet auf alle Menschen. Nach seiner Emeritierung als Bischof hat er als einfacher Mensch und Seelsorger unter geistig behinderten Menschen gelebt. Dort ist er auch gestorben.
„Mach‘s wie Gott – werde Mensch!“ Der Titel eines seiner Bücher kann uns in dieser Woche Richtschnur sein in unserem Bemühen, Gott und den Nächsten – auch den Fernsten, der mir zum Nächsten werden kann – zu lieben. Es in unserer Menschwerdung Gott gleich zu tun und es mit der Liebe einfach mal zu versuchen. Oder um es mit einem anderen Wort von Franz Kamphaus zu sagen: „Den Diktatoren gleitet der Erdball aus der Hand, und er zerbricht – die Liebe hält ihn zusammen.“