Predigt an Allerheiligen (1.11.2020)

von P. Helmut Bochnick OSB

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Frage, die hinter dem Fest Allerheiligen, das wir heute feiern, steht, könnte so lauten: Was ist das Ziel unseres Lebens? Woraufhin sind wir unterwegs?

Gerade in der momentanen Jahreszeit, in der sich die Natur mehr und mehr in den winterlichen Ruhezustand zurückzieht, wo vieles abstirbt und zu Ende geht und wo vielleicht auch wir selber uns mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert sehen oder sie uns neu bewusst wird, erinnert uns das Fest Allerheiligen an unsere christliche Berufung und Hoffnung.

Berufung und Hoffnung:
Beides nämlich, der Ruf Jesu in die Nachfolge, der an uns in der Taufe ergangen ist, aber auch die in der Auferstehung Jesu begründete Hoffnung im Tod und über den Tod hinaus, machen deutlich, dass es sich beim Fest Allerheiligen um ein Fest des Lebens, um ein im wahrsten Sinne des Wortes lebendiges Fest, ein freudiges, hoffnungsvolles und Hoffnung machendes Fest handelt.
Das die Liturgie einleitende Tagesgebet hielt uns vor Augen, dass wir heute eingeladen sind, „die Verdienste aller Heiligen zu feiern.“

Einige dieser Heiligen sind uns von Kindheit an wohl vertraut, wie zum Beispiel St. Martin, der heilige Nikolaus oder die heilige Barbara, deren Lebensgeschichten wir nicht zuletzt in liebgewordenen Traditionen alljährlich erinnern. Andere Heiligengestalten wiederum sind uns im Gegensatz dazu selbst vom Namen her weniger oder gar nicht bekannt.

Doch wer die Heiligenlisten zu Rate zieht, wird sehr schnell feststellen, dass hier Frauen und Männer aus ganz verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichem Alter und Wesen verzeichnet sind.

Aber all diese Heiligen haben gemeinsam, dass sie sich von der Botschaft Jesu haben ansprechen und treffen lassen, und dass sie Jesus nachgefolgt sind und in ihrer Betroffenheit die Seligpreisungen, die wir im heutigen Evangelium gehört haben, zum Maßstab ihres Lebens gemacht haben.

Diese Menschen haben sich auf Jesu Botschaft eingelassen und sie zu ihrer Lebensmitte gemacht, haben ihr mit ihren je eigenen, von Gott geschenkten Talenten und Möglichkeiten eine Gestalt gegeben und auf diese Weise die Botschaft vom Reich Gottes schon in dieser Welt Wirklichkeit werden lassen.

Sie haben eine oder mehrere dieser Verheißungen des heutigen Evangeliums lebendig werden lassen und damit gezeigt, dass es sich bei den Seligpreisungen nicht um eine bloße Traumwelt, eine Vision oder Utopie handelt. Ihre Lebensgeschichten lehren uns vielmehr, dass die Botschaft Jesu lebbar und verwirklichbar ist.

Grundlage dafür war, dass sich die Heiligen vor Gott arm gemacht und arm gewusst haben. Sie sind mit offenen, leeren Händen vor Gott gestanden, einerseits im Wissen, dass sie von seiner Zuwendung abhängig sind und andererseits mit dem Vertrauen, dass Gott es ist, der ihre leeren Hände mit seiner Nähe, mit seinem Frieden, mit seiner Kraft füllen kann.

Diese empfangende Haltung hat die Heiligen die Welt mit den Augen Gottes anschauen lassen. Und das hat sie zu jenen Akzentsetzungen in ihrem Leben, zu jenen Taten, Entscheidungen oder Haltungen verholfen, auf die wir, wenn wir ihr Leben betrachten, manchmal mit Bewunderung, manchmal auch mit Verwunderung, manchmal vielleicht auch mit Entsetzen und dann auch wieder mit großem Staunen blicken.

Das Fest Allerheiligen nimmt also alle Menschen in den Blick, die den Weg der Nachfolge Jesu gegangen sind und seine Botschaft in ihrem Umfeld, in ihrer Zeit, in ihrer Situation und mit ihren Möglichkeiten gelebt haben.
Und dazu zählen nicht nur jene Menschen, die wir als Heilige verehren.
Dazu zählen auch all jene stillen, unbekannten, zum Teil längst vergessenen Menschen, die dem Glauben Gestalt gegeben haben und die bei Gott zur Vollendung gelangt sind.

Sie alle sind die „große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen“, von denen Johannes im Buch der Geheimen Offenbarung im 7. Kapitel, Vers 9 sagt, dass „sie niemand zählen konnte“.

In der Präfation des heutigen Festtages heißt es:
„Heute schauen wir deine heilige Stadt, unsere Heimat, das himmlische Jerusalem. Dort loben dich auf ewig die verherrlichten Glieder der Kirche, unsere Schwestern und Brüder, die schon zur Vollendung gelangt sind.“

Es sind unsere Schwestern und Brüder, nicht irgendwelche Übermenschen, die das heutige Fest in den Blick nimmt.

Dieser Lobpreis ist bemerkenswert, denn er schlägt förmlich eine Brücke zwischen denen, die bei Gott schon vollendet sind und uns, die wir noch auf dem Weg zum Ziel unseres Lebens sind.

Als Christen wissen wir um die Vorläufigkeit dieses Lebens und richten unseren Blick nach vorne, wo uns ein Leben über den Tod hinaus verheißen ist.

Die Heiligen, auf die wir heute blicken, halten uns diesen Blick und die Hoffnung auf den Himmel offen.

Ihr Leben, ihre Verdienste sollen uns nicht frustrieren oder demotivieren, weil wir meinen, sie kopieren zu müssen und gleichzeitig spüren, dass uns manche ihrer Taten zu groß, zu heroisch, zu unerreichbar erscheinen.

Was unsere Schwestern und Brüder in der Vollendung in ihrem Leben auf Erden ausgezeichnet hat, ist, dass sie der Verheißung gefolgt sind, die Jesus mit den Seligpreisungen seinen Jüngern mit auf den Weg gegeben hat.

Die große Anzahl der Heiligen zeigt, wie vielfältig diese Nachfolge aussehen kann und wie vielfältig daher auch Heiligkeit gelebt, erkennbar und spürbar werden kann.

Das heutige Fest Allerheiligen macht uns deshalb Mut, wie viele Menschen vor uns auf dem Weg der Nachfolge Jesu zu gehen und dabei heilig zu werden. Denn dazu sind wir berufen: Heilige zu sein! Jetzt schon! Wir wissen es bloß noch nicht – oder schon nicht mehr…

Und es ist ein Weg, der uns zum Leben führt: zum Leben Gottes und seiner Heiligen, unserer Schwestern und Brüder. Amen.