Predigt zum Gründonnerstag (28.03.2024)

von P. Klaus-Ludger Söbbeler OSB

Der Liebe bedürftig und zur Liebe fähig

I.
„In jeder Generation ist jedermann verpflichtet, sich selbst so anzusehen, als wäre er dabei gewesen.“ Dieser Satz stammt aus der jüdischen Tradition; er macht deutlich, wie ein glaubender Mensch mit der überlieferten Tradition umgehen soll: Mach dir zu eigen, was vergangene Generationen erfahren und gelernt haben. Sei dir darüber im Klaren, dass es dabei nicht um einen sentimentalen Ausflug in die „gute alte Zeit“ geht, sondern um dich, um uns – hier und jetzt.
„Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.“
lässt Goethe seinen Faust sagen, als der nach einem Ausweg aus der Enge seiner einsamen Selbstbezogenheit sucht.

Die Tage von Gründonnerstag bis Ostersonntag sind der Erinnerung, besser der Verinnerlichung, des Lebens, Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu gewidmet; sie bieten eine überaus intensive Verdichtung von Lebens- und Glaubenserfahrungen, die es zu „erwerben“ gilt, damit sie uns für den aufgegebenen Augenblick nicht „belasten“ sondern „nützen“.

II.
Unter der Perspektive der Bedeutung für uns möchte ich heute Abend die Person des Petrus in den Blick nehmen, um mit ihm und von ihm zu lernen, wie Leben und Glauben zueinander finden.

In dem Abschnitt aus dem Johannesevangelium (Joh 13,1-15), den wir gerade gehört haben, sieht Petrus Jesus auf sich zukommen, sein Idol, in dessen Windschatten er groß herauskommen will. Ausgerechnet der möchte ihm die Füße waschen. Mehr an Zuneigung, an Wertschätzung, an Liebe als dieses Angebot der Fußwaschung ist kaum vorstellbar. Das irritiert Petrus zutiefst.
Unsäglich ist deshalb die Verdrehtheit und Verstocktheit, mit der er auf dieses Angebot reagiert: „Du Herr, willst mir die Füße waschen? … Niemals sollst Du mir die Füße waschen“ schleudert Petrus Jesus ins Gesicht. – Jesus muss sich gefühlt haben wie einer, dem man mit lautem Getöse die Tür vor der Nase zudonnert: „Niemals sollst Du mir die Füße waschen.“ Das bedeutet: Ich lasse dich nicht an mich heran, untersteh‘ dich, mir zu nahe zu kommen. Mehr Misstrauen geht nicht.

Gott sei Dank reagiert Jesus auf diese brutale Zurückweisung nicht so, wie das vermutlich in den meisten Beziehungssituationen passieren würde: Er dreht sich nicht um und zieht nicht beleidigt und wutschnaubend ab. Vielmehr unternimmt er mit größtmöglicher Deutlichkeit einen neuen Anlauf: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“ Das bedeutet: Petrus, ist dir wirklich klar, was du da gerade tust? Du schneidest dich von dem ab, was dir doch als Grund und Kraft und Ziel deines Lebens aufgegangen ist. Willst du das wirklich? Das endlich sitzt bei Petrus – so massiv, dass er schlagartig aufs komplette Gegenteil umschaltet: „Herr, dann nicht nur meine Füße, sondern auch die Hände und das Haupt.“ Petrus hat verstanden – zumindest für diesen Augenblick: Gott ernst zu nehmen als Grund und Weg und Ziel des Lebens bedeutet, sich von ihm die Füße waschen zu lassen, ihn als Diener – nicht als Machthaber – an sich anzunehmen. Gott zu verehren heißt, sich nicht vor ihm zu schämen, keine Angst vor ihm zu haben. Gottes-dienst ist nicht verhuschte Unterwürfigkeit sondern grenzenloses Vertrauen!

Das ist im Kern anders als alles bisher Dagewesene – damals und heute immer noch. Hier unterscheidet sich der Glaube an Jesus Christus wirklich und grundlegend von allem, was es sonst im Bereich der Religionen gab und gibt. So mit Gott in Beziehung zu sein, war für die meisten Menschen im Umfeld Jesu noch viel unfassbarer als für Petrus. Sie geraten aufgrund seiner Art Gott zu verkörpern in blinde Aggression und nageln ihn ans Kreuz. Aus ihrer Machthabersicht ist das absolut folgerichtig: Wo kämen wir denn hin, wenn plötzlich Dienen und Vertrauen wirkungsvoller wären als Befehlen und Kontrollieren?

III.
Soweit, was uns in der Szene der Fußwaschung als „Erbe“ hinterlassen ist. Wie können wir es im Sinne Goethes „erwerben“? – Ich schlage vor, uns auf den Augenblick zu konzentrieren, in dem die Haltung des Petrus umschlägt, weil er glasklar spürt, was auf dem Spiel steht; als er innehält und sich dazu durchringt, Jesus an sich heranzulassen. Es muss ein atemberaubender Moment gewesen sein!

In dem Maß, wie wir dieses „Erbe“ des Petrus „erwerben“, dürfte es auch für uns atemberaubend werden! Haben wir doch ganz anderes mit der Muttermilch aufgesogen:
– dass keiner besser für uns sorgen kann als wir selbst.
– dass es „peinlich“ ist, Zuwendung annehmen zu „müssen“, ohne zu bezahlen.
– dass es darauf ankommt, oben zu sein und oben zu bleiben.
– dass die Mitgeschöpfe und die Mitmenschen mir als „Untergeschöpfe“ und „Untermenschen“ zur beliebigen Verfügung zu stehen haben, weil meine Selbstbezogenheit mich zwingt, den „Obermenschen“ zu spielen.

Mit Petrus innezuhalten bedeutet, die Einsicht an mich heranzulassen, dass da wo ich mich gegenüber der Zuwendung durch Mensch und Gott erhaben und unerreichbar mache, dass da die Welt aus den Fugen gerät und eine zerstörte Schöpfung, eine nicht zu unterbrechende Spirale von Missbrauch, Gewalt und Krieg die zwangsläufige Folge ist. Die dramatische Weltlage dieser Tage lässt uns das mit aller erdenklichen Deutlichkeit spüren und erleiden.

Zu „erwerben“, was wir in der atemberaubenden Begegnung zwischen Petrus und Jesus bei der Fußwaschung „ererbt“ haben, heißt:
Mensch, gib den Widerstand auf gegen das, was Gott eigentlich gewollt hat, als er seine Schöpfung und dich als sein Geschöpf ins Dasein gestellt hat.
Fang an, deine Bestimmung darin zu sehen, dich von Gott und den Menschen so lieben zu lassen, dass du eine Liebende, ein Liebender wirst.
Dein Dasein hat nicht dann sein Ziel erreicht, wenn du andere zwingen kannst, dir die Füße zu waschen. Dein Dasein ist vielmehr da am Ziel, wo Gott dir die Füße waschen darf und du deshalb nicht dein Gesicht verlierst, wenn du deinen Menschengeschwistern die Füße wäschst. –
Kurz: Mensch „erwirb“ endlich, was du „ererbt“ hast: Der Liebe bedürftig und zur Liebe fähig zu sein!