Predigt an Karfreitag (18.04.2025)
von Abt Cosmas Hoffmann OSB
Der Prophet Elija nimmt am Berge Horeb Gottes Gegenwart nicht im heulenden Sturm, nicht im tosenden Erdbeben, nicht im tobenden Feuer wahr, sondern, wie Martin Buber übersetzt, „im verschwebenden Schweigen“. „Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle“ (1 Kö 19,12).
Wenn ich dieses Motiv, das dem Hörsinn entspricht, in die Welt des Sehens übertrage, dann könnte es heißen: im verdämmernden Dunkel. Dieses Bild verbinde ich mit der Apsis unserer Abteikirche, in deren Höhe hinein es immer dunkler wird.
Darum berührt es mich jedes Jahr neu, wenn das große Christkönigkreuz abgenommen ist, und allein die Sprache des Raumes, der Architektur wahrnehmbar ist. Die nach oben hin vom zunehmenden Dämmerdunkel geprägte Apsis ist für mich ein starkes Bild für Gottes Gegenwart und Sein, das neben aller Offenbarung immer auch Geheimnis bleibt.
Zugleich ist dieses Motiv auch ein Bild der großen Frage des Menschen, die ihn bedrängt, sich schwer verdrängen lässt, die ihn übersteigt und unterschiedliche Fassungen findet, die Frage nach dem Sinn, nach dem Warum, die Frage nach Gott. Wer, Wo ist Gott?
Das ist auch die Frage des Karfreitag: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Matthäus (27,46) und Markus (15,34) zitieren in ihren Passionsberichten dieses Wort, mit dem Psalm 22 beginnt, den wir heute in der Mittagshore gebetet haben. – Wo ist Gott?
In diesem Jahr gedenken wir der Befreiung der Konzentrationslager vor 80 Jahren. Die Millionen Morde an den Juden und an vielen anderen von den Nazis Verfolgten waren und sind bis heute eine Herausforderung für die Theologie nach Auschwitz: „Wo war Gott?“
In einer Barackenwand im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen hat ein Häftling geschrieben: Wenn es einen Gott gibt, dann soll er mich um Verzeihung bitten!“
Seit der Befreiung der Konzentrationslager 1945 bis 2001 hat es weltweit 248 bewaffnete Konflikte in 153 Ländern gegeben, bei denen 85 bis 90 Prozent aller Getöteten Zivilisten gewesen sind.
In unseren Tagen hat Russlands Krieg laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in der Ukraine bis jetzt 13.000 Zivilisten getötet, darunter knapp 700 Kinder.
Und im Gaza-Krieg, der nach dem Überfall der palästinensisch-islamistischen Terrororganisation Hamas auf israelische Zivilisten Anfang Oktober 2023 begann, liegt die Gesamtzahl der Opfer auf beiden Seiten laut Vatican news bei rund 35.000 Menschen, bei denen es sich zumeist um palästinensische Zivilisten handelt.
Zu diesen kriegerischen Konflikten kommen, so Caritas international, wirtschaftliche bzw. politische bewaffnete Krisen in Venezuela, Kolumbien, Libanon, Syrien, Irak, Afghanistan, Mali, Äthiopien, Südsudan, Zentralafrikanische Republik, Kongo, Tschad, Nigeria und Myanmar. Der Blutzoll vieler unschuldiger Menschen ist auch hier sehr hoch.
Am Karfreitag, so Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung, „ist die Abwesenheit Gottes anwesend. An diesem Tag richtet sich der Blick auf die Gottverlassenheit der Welt; dieser Tag gibt denen Recht, die sagen: Da ist kein Gott; … Der Karfreitag ist der Tag, der einen Atheismus der Verzweiflung achtet.“
Und weiter heißt es: „Der Glaube an Gott verlangt entweder ungeheure Naivität oder ein unglaubliches Ringen. Das Kreuz ist der Identifikationspunkt für Lebens- und Todeserfahrungen, die nicht auflösbar sind. Es ist der Ort für die Warum-Fragen, die unbedingt gestellt werden müssen, auch wenn sie keine letzte Antwort finden.“
Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass wir uns gleich dem Kreuz zuwenden, um es für uns als „Identifikationspunkt für Lebens- und Todeserfahrungen, die nicht auflösbar sind“, wahrzunehmen.
Die Gestalt des Gekreuzigten, die dabei vor unseren Augen enthüllt wird, ist ganz von der Hingabe Jesu geprägt: Es ist die zusammengesackte Gestalt eines am Kreuz gehenkten Menschen. Der Leib ausgezehrt, sich verzehrend für die Menschen, zu denen er über den Tod hinaus seine Hände ausstreckt. Diese Hände sind groß und leer, alles hat er hingegeben, zuletzt sich selbst, sein Leben.
Der Gekreuzigte ist selbst Gewaltopfer. In seinem Leiden wird er eins mit den bedrohten Anderen. In seinem Schrei nach Gott am Ende der Passion wird das schmerzhafte Vermissen der rettenden Macht Gottes hörbar gemacht und in Gestalt der Klage vor Gott selbst gebracht.
Diese Solidarität des Gottesknechtes mit den Leidenden findet sich bereits im Buch des Propheten Jesaja, dem die Erste Lesung, die wir gerade gehört haben entnommen ist. Im Umgang mit dem gewaltsamen und ungerechten Tod Jesu halfen den Jüngern diese Texte, in denen es heißt:
„Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt.
Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 52, 3-5).
Die Gestalt des Gottesknechtes am Kreuz ist nicht nur Zeichen von Jesu Solidarität mit den Leidenden, sondern auch Zeichen der Hoffnung, dass die Klagen, die verstummten Schreie der Opfer der Geschichte durch die Klage des Gottverlassenen, durch den Schrei des Gekreuzigten einen Ort in Gott selbst haben. Sie verhallen nicht ungehört, sondern finden – mit Ottmar Fuchs gesprochen – „Resonanz“ bei Gott selbst. Die offengebliebenen Fragen der Opfer werden nicht vergessen, sondern reichen in die von Jesus ver- und angekündigte Gegenwart des zukünftigen Gottesreiches hinein.
Auch dieser Gedanke klingt bereits im so eben Gehörten Gottesknechtslied an, wenn es am Ende heißt: „Doch der Herr hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. Nachdem dieser vieles ertrug, erblickt er das Licht.“ (Jesaja 52, 10-11)
Hier leuchtet schon das Licht von Ostern auf, doch heute ist Karfreitag und morgen ist Karsamstag, bevor dann das Lumen Christi die Finsternis der Nacht durchbricht.
Darum folgen wir heute dem Beispiel des Gottesknechtes und verbinden uns nach der Kreuzverehrung in den Großen Fürbitten solidarisch mit allen Menschen, vor allem mit jenen, die sich von Gott und Menschen verlassen fühlen. Spüren wir dabei auch unserer eigenen inneren Not nach. Haben wir den Mut, uns unseren Zweifeln, unserer Verzweiflung, unseren Erfahrungen oder Gefühlen von Verlassenheit zu stellen. Nur wer bereit ist, die eigene Not zu fühlen, kann auch mitfühlend sein und anderen wirklich nahe sein und sie verstehen lernen.
Nehmen wir das Motiv der offenen Herzenswunde des Gekreuzigten als Aufforderung, unsere Herzen zu spüren, zu weiten und zu öffnen.