Predigt am Benediktsfest (21.03.2024)

von Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz, Paderborn

Liebe Schwestern und Brüder,

in den vergangenen Tagen habe ich unzähligen Menschen die Hand geschüttelt. Sie haben sich bei mir mit Namen vorgestellt. Unmöglich, sich die Namen zu merken. Das hat auch niemand erwartet – erst recht nicht im Trubel rund um meine Amtseinführung. Dann waren aber auch noch intensivere Begegnungen dabei – im Bischofshaus, in kleineren Kreisen im Generalvikariat oder bei sonstigen Gelegenheiten – auch da das gleiche Bild: Ich schüttele Hände. Man stellt sich mit Namen vor. Bei solchen Gelegenheiten müsste ich mir die Namen merken. Aber das ist eine Schwäche: Es fällt mir nicht leicht, mir Namen zu merken. Ich höre den Namen. Ich habe ihn auch verstanden. Aber er ist gleich wieder weg. Ich höre und höre dennoch nicht. Vielleicht kennen Sie eine ähnliche Erfahrung aus anderen Zusammenhängen: Wenn man als Familie zusammen bei Tisch sitzt, es wird erzählt. Man selbst ist aber mit den Gedanken ganz woanders und erschrickt, wenn man plötzlich hört: „Du hörst mir ja gar nicht zu!“ Ich höre und höre dennoch nicht. Und wie nervig sind diejenigen Gesprächspartner, die einem ins Wort fallen, nicht zuhören, sondern sofort beginnen von sich zu erzählen. Die fragen, wie es einem geht und die Antwort gar nicht abwarten. Auch sie hören und hören dennoch nicht.

Mit dem richtigen Hören scheint das so eine Sache zu sein. Wir hören, was wir hören wollen. Wir überhören, was wir nicht hören wollen. Wir hören. Und das Gehörte verflüchtigt sich. Da hat es das Bild einfacher: Man sieht etwas vor Augen. Der Schall, den wir hören, verflüchtigt sich. Das Bild, das wir sehen, bleibt. Das heißt, die Sichtbarkeit eines Gegenstands verleitet immer ziemlich dazu, ihn als gegeben und fassbar hinzunehmen. Der Philosoph Hans Blumenberg hat einmal gesagt, dass mit der Aufklärung die optischen Metaphern immer weiter an Bedeutung gewonnen haben. Gleichzeitig hat dann ein Begriff wie Evidenz, also der Sichtbarkeit, für die Bestimmung des Wahrheitsbegriffs an Bedeutung gewonnen. Die Wahrheit ist das, was ich klar vor Augen habe. Aber das Ohr neigt schon aufgrund der Flüchtigkeit des „nur“ Gehörten dazu, das Wahrgenommene auch stärker zu hinterfragen und hat damit ein vielleicht kritischeres Potenzial als das Auge. Dennoch – in unserer Geistes- und Kulturgeschichte fristet das Hören als Weg der Erkenntnis und der Lebensbewältigung eine eher kümmerliche Existenz. Das Hören wurde zumindest lange unterschätzt.

In der jüdischen und christlichen Überlieferung stand aber eigentlich das gesprochene Wort an erster Stelle. Das Verbot bildlicher Darstellungen Gottes bei den Juden richtete sich gerade gegen den Götzendienst, dem das Bild Vorschub leisten würde. Glaube kommt eben vom Hören und nicht vom Sehen oder vom Festhaltenwollen oder Ergreifenkönnen.

Nicht von ungefähr hat der heilige Benedikt in seiner Ordensregel an den Beginn als Prolog einen entscheidenden Satz gestellt, der wie eine Überschrift gelten kann für den, der Gott sucht. Benedikt sagt: „Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens!“ Es ist quasi eine „Kurzformel“ des benediktinischen Lebens. Höre – neige das Ohr! – wie viel Respekt für mein Gegenüber ist in diesem Wort enthalten – das heißt: mit sensibler Aufmerksamkeit sich respektvoll dem anderen zuzuwenden.

Benedikt geht es darum, das Hören zu einer Grundhaltung des Miteinanders, des gemeinsamen Lebens zu machen. Deshalb geht es nicht um ein einfaches akustisches Hören. Es geht um Verinnerlichung. Darum sagt Benedikt: Neige das Ohr deines Herzens! Das bloße Ohr reicht nicht, wenn das Herz weit weg ist. Ein Hörender werden, das heißt: von Grund auf bereit zu sein, sich auch belehren, sich auch beschenken zu lassen, sich nicht taub zu stellen und nur das eigene gelten lassen. Mit der Option, dass der andere mit dem Gesagten im Recht sein könnte. Nur so können wir im Hören einander die Wahrheit hinüberreichen! Wie es bei Hölderlin heißt: „Viel hat erfahren / seit ein Gespräch wir sind / der Mensch“.

Diese geistliche Tugend des Hörens mit dem Herzen verändert unsere Art, aufeinander zu- und miteinander umzugehen. Man hat doch den Eindruck, dass es derzeit im gesellschaftlichen Diskurs – und auch innerhalb unsrer Kirche – zu einer Grundhaltung geworden ist, dass man meint: Ich muss möglichst zugespitzt meine eigene Position zu Gehör bringen, damit ich überhaupt gehört werde. So entsteht der Eindruck, dass wir mehr damit beschäftigt sind, uns zu „positionieren“ als wirklich auf den anderen hinzuhören. Man bekommt leicht das Gefühl wie bei einem Gespräch, bei dem alle gleichzeitig sprechen, keiner aber dem anderen wirklich zuhört. Ist es das, was uns so frustriert und weshalb wir nicht weiterkommen?

Richtiges Hören fordert mich heraus, beim Hören nicht sofort damit beschäftigt zu sein, wie kompatibel das Gesagte mit meiner eigenen Position ist. Hören können heißt, meine Aufmerksamkeit von mir selbst weg auf den anderen hin zu lenken. Es ist eine radikale Wertschätzung des Menschen, mit dem ich jetzt gerade zu tun habe. Ihm das erste Wort zu überlassen, zeigt, dass ich ihn achte und respektiere. Nur wo ich versuche, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen, werde ich wirklich zuhören können, werde ich vor allen Dingen eine Sensibilität auch dafür bekommen, was „zwischen den Zeilen“ oder auch nicht gesagt wird. Der gute Zuhörer ist fähig, auch das Unausgesprochene mitzuhören! Erst das führt dazu, dass der andere sich verstanden fühlt. Erst dann kann das Gespräch sich weiterentwickeln. Deswegen gehört die Fähigkeit, still sein zu können, zum Hören mit dazu. Stille und Hören sind Tugenden des Gebets!

Mit dieser geistlichen Grundhaltung beschreibt Papst Franziskus immer wieder Synodalität als „Stil der Kirche“. Ein synodaler Stil der Kirche, wie Papst Franziskus ihn versteht, verwirklicht sich für ihn in drei Schritten, nämlich: „… in der Begegnung, im Einander-Zuhören und in der Unterscheidung.“ Papst Franziskus sagt: „Synodalität setzt das Zuhören voraus: Wir müssen das Zuhören in der Kirche entwickeln. Auf diese Weise zeigt Gott uns den Weg, dem wir folgen sollen, indem er uns aus unseren Gewohnheiten herausführt und uns auffordert, neue Wege zu gehen wie Abraham. Wir müssen Gott zuhören, wenn er zu uns spricht, und dürfen ihn nicht nur abgelenkt hören. (…) Es ist das Hören auf sein Wort, das uns zur Unterscheidung befähigt und uns erleuchtet. (…) Es ist diese Veränderung der Herzen, die es uns ermöglichen wird, die Welt zu verändern und das Gesicht der Kirche zu erneuern.“

Das erinnert mich auch an die Bitte des Königs Salomo an Gott, als er seine Verantwortung als König übernimmt. In diesem Augenblick hat er nämlich gerade nicht um Macht und Einfluss, Durchsetzungskraft oder etwas anderes gebetet, sondern er bat Gott „um ein hörendes Herz“ – die Fähigkeit hinhören zu können, ist in den biblischen Schriften von jeher eine Quelle der Weisheit für die Mächtigen.

Auch in der Regel des Heiligen Benedikt kehrt dieser Gedanke wieder, dass sich mit der Bereitschaft und Fähigkeit eines hörenden Herzens verbinden muss, will sie geistliche Autorität sein: Die jungen Mönche sollen auf die Stimme der Älteren hören, die Älteren auf die Stimme der Jüngeren, gemeinsam auf die Stimme des Herrn – nur so gelingt das gemeinschaftliche Leben. Nur so werden eine Gemeinschaft und der Einzelne in ihr zu Gottsuchern. Und allein darauf kommt es an. Eine der großen Weisheiten der Kirchenväter war, niemals etwas anzufangen, ohne vorher den Rat eines anderen gehört zu haben!

Vielleicht verstehen wir jetzt etwas besser, was der Heilige Benedikt meint, wenn er den Mönchen zuruft: „Höre … und neige das Ohr deines Herzens!“

Diese geistliche Tugend ist der Dreh- und Angelpunkt. Sie hält uns in der Einheit zusammen: eine monastische Gemeinschaft wie hier in der Abtei Königsmünster, eine Kirche wie die Kirche in Deutschland mit ihrer synodalen Dynamik und eine Weltkirche, die lernen muss, aufeinander zu hören, um Unterschiede in Einheit leben zu können.

Das gilt aber in gleicher Weise für unser Erzbistum und für mich persönlich auf dem gemeinsamen Weg, der nun begonnen hat: Höre … und neige das Ohr deines Herzens! Das soll auch meine geistliche Haltung, mit der ich mich mit Ihnen auf den Weg machen möchte und um die ich immer wieder im Gebet bitten möchte. Benedikt inspiriert uns, diesen Weg von nun an gemeinsam zu gehen.